"Gab es etwa keine Männer?"

Suheir Ismail ist die erste Frau im Amt des Scheich al-Balad, des Dorfschulzen eines ägyptischen Dorfes. Sie hilft bei der Lösung der Alltagsprobleme der Dorfbewohner. Nelly Youssef hat die "Scheicha" im Dorf al-Barda'a besucht.

Samira Ismail, Foto: Nelly Youssef
Samira Ismail

​​Das Amt des Scheich al-Balad, des "Dorfschulzen", erfreut sich in den ländlichen Gegenden Ägyptens weiter Verbreitung. Der Vorsteher einer ländlichen Gemeinde, deren Einwohnerzahl 20.000 Personen erreicht, wird Omda genannt. Solch ein "Großdorf" teilt sich in kleinere Unterdörfer, die so genannten "Scheichate". Jedes Scheichat hat einen eigenen Dorfschulzen, der die anfallenden Arbeiten erledigt und sich um die Einwohner und ihre Probleme kümmert.

Dieses Amt war zuvor ausschließlich den Männern vorbehalten, bis 1994 zum ersten Mal in Ägypten ein Gesetz auch den Frauen Zugang dazu gewährte. Seit der Erlassung des Gesetzes hat allerdings erst eine einzige Frau vom Recht, dieses Amt auszuüben, Gebrauch gemacht. Sie heißt Suheir Ismail und versieht ihre Amtspflichten im Dorf, oder vielmehr dem Scheichat al-Barda'a, das zum Verwaltungsbezirk al-Qalyubiyya nördlich von Kairo gehört.

Die Hilfe des Dorfschulzen oder des Kabir al-Qarya, des Dorfältesten, wie er auch genannt wird, nehmen alle, ob groß oder klein, in Anspruch. Er hat Anteil an den meisten Entscheidungen der Dorfgemeinschaft, deren Probleme und Sorgen, Gewohnheiten und Bräuche sich von denen der Stadtbewohner deutlich unterscheiden. In alten Zeiten wurde der Amtsinhaber durch Wahl bestimmt, in jüngster Zeit ist ein Regierungsamt daraus geworden, das durch Ernennung vergeben wird.

Sind die Männer tot?

In einem Interview für Qantara berichtet Suheir Ismail, wie sie sich als Scheich al-Balad in ihrem Dorf bewarb, nachdem der frühere Dorfschulze 1999 gestorben war. Sie war damals 38 Jahre alt und kannte die Aufgaben und Pflichten, die mit dieser Stellung verbunden sind, durch ihren Onkel, der das Amt in ihrem Dorf lange Zeit inne gehabt hatte. Sie hatte ihn oft dabei beobachten können und sich gewünscht, es ihm gleich zu tun.

Wie sie betont, begegneten ihr, sobald die Ernennung bekannt wurde, viele der Dorfbewohner, Männer und Frauen, mit der üblichen Skepsis, die Frauen, die ein wichtiges Amt übernehmen, in den orientalischen Gesellschaften auf sich ziehen:

"Gab es etwa keine Männer, oder warum mussten sie eine Frau nehmen? Es sind doch noch nicht alle Männer gestorben!" Diesen entgegnete sie, die Zeit werde für sie arbeiten und den Beweis ihrer Eignung erbringen, dessen war sie sich sicher, ganz besonders, da ihr Mann und ihre Familie hinter ihr standen und sie in ihrem Vorhaben unterstützten.

Die Bedingungen für eine Bewerbung um eine Anstellung als Scheich al-Balad ist die Kenntnis des Lesens und Schreibens sowie der Besitz einer landwirtschaftlichen Nutzfläche. Auch muss der Bewerber sich durch hohes moralisches Ansehen auszeichnen, es darf kein juristisches Verfahren gegen ihn anhängig oder seine Ehrbarkeit in irgendeiner Weise zweifelhaft sein.

Suheirs eigentliche Ausbildung fand statt am Institut für Verwaltungs- und Sekretariatswesen. Danach war sie von 1993 bis 1999 ehrenamtlich im Bereich der Alphabetisierung in ihrem Dorf tätig. Die Organisation für Alphabetisierung und Erwachsenenbildung übernahm sie als Dozentin, nachdem man dort ihren engagierten Einsatz bemerkt hatte, mit dem sie den Kampf gegen das in den ägyptischen Dörfern besonders unter den Frauen und Mädchen weit verbreitete Analphabetentum führte.

Friedliche Beilegung von Streitigkeiten

Wichtig für die Eignung zum Dorfschulzen, so hebt Suheir hervor, ist eine schnelle Auffassungsgabe, politisches Feingefühl, und eine nähere Bekanntschaft mit jedem einzelnen der Dorfbewohner, selbst mit jenen, die nicht mehr auf dem Dorf wohnen, sondern nur zeitweise auf Besuch kommen.

Große Menschenkenntnis ist notwendig, um die unterschiedlichen Charaktere aller Dorfbewohner zu erfassen, was besonders für die Berichte, die dem Omda, dem Vorgesetzten des Scheich al-Balad, über die Lage im Dorf zu erstatten sind.

Wenn beispielsweise auf einem Acker ein Brand ausbricht, begibt sich der Dorfschulze unverzüglich dorthin, um die Ursache des Brandes zu erforschen. Wenn es sich dabei um Brandstiftung handelte, wird er versuchen, zwischen dem Brandverursacher und den Besitzern des verbrannten Ackers im Sinne einer friedlichen Beilegung zu vermitteln. Ist dies nicht möglich, so übergibt der Dorfschulze die Sache dem Gericht.

Ein weiteres Beispiel: Wenn ein Mitglied der Dorfgemeinschaft verstirbt, steht der Dorfschulze den Angehörigen des Verstorbenen bei und sorgt vorübergehend sogar für deren Lebensunterhalt. Die eigentliche Aufgabe des Scheich al-Balad ist die Unterstützung des Omda, der sich nicht um alle Angelegenheiten der Gemeindemitglieder kümmern kann.

Suheir Ismail, die Dorfschulzin, erzählt, dass sie sehr lange brauchte, bis die Dorfbewohner sie akzeptierten, da sie das gesellschaftliche Muster, nach dem die Frau sich dem Mann unterzuordnen hat und niemals umgekehrt, tief verinnerlicht hätten.

So war deren Erstaunen groß, wenn sie nachts zur Inspektion eines Unfalls oder zur Hilfe in Krankheitsfällen erschien. Frauen, besonders die Bewohnerinnen ländlicher Gebiete, hatten sich nach Meinung der Dörfler an die strengen Vorschriften des altbewährten Brauchtums zu halten!

Suheir beteiligt sich darüber hinaus an der Beaufsichtigung veterinärer Vorsorgeprojekte sowie der Gesundheitszentren, die ihren Schwerpunkt auf die Kinderbetreuung, die Bekämpfung des Analphabetentums und die Förderung der Bildungsbestrebungen von Frauen und Mädchen gelegt haben.

Inzwischen suchen die Dorfbewohner Suheirs Rat auch in verschiedenen Angelegenheiten, die den Bereich der islamischen Glaubensvorschriften berühren. Denn da sie weiß, dass die Bestimmungen der islamischen Sharia für die Dorfbewohner die wichtigste Bezugsquelle in allen Lebenslagen ist, hat sie die Texte dieser Gesetzesquelle sehr gründlich studiert.

Dabei erfüllt diese Beratungsfunktion bei weitem nicht jeder Scheich al-Balad, da sie ganz besondere Kenntnisse erfordert. Und wenn Suheirs Kenntnisse der Sharia einmal in einer Angelegenheit nicht ausreichen, wendet sie sich mit dem Problem an die Gelehrten, die sich im islamischen Recht spezialisiert haben.

Helferin im Guten wie im Bösen

Die Tatsache, dass sich außer ihr noch keine andere Frau um dieses Amt beworben hat, erklärt Suheir Ismail aus den Gewohnheiten und Bräuchen der ägyptischen Landbewohner. Für die meisten von ihnen ist der Scheich al-Balad ein Mann, der von allen Bewohnern gefürchtet wird. Suheirs Arbeit jedoch mag als Gegenbeispiel dienen, denn inzwischen haben die Dorbewohner ihre Scheichin sehr gern und verehren sie sogar, nachdem sie sich davon überzeugen konnten, dass sie ihnen beisteht, im Guten wie im Bösen.

Anfangs, so erinnert sich Suheir, war das Amt des Dorfschulzen ein ehrenamtliches, ohne jegliche finanzielle Aufwandsentschädigung. Inzwischen jedoch ist daraus ein Regierungsposten geworden, der im Monat mit 75 ägyptischen Pfund vergolten wird und für den keine Altersbeschränkung oder Rentenvorschrift gilt. Ein Scheich al-Balad kann seine Arbeit verrichten, unabhängig davon, wie alt er ist, Voraussetzung ist nur eine gute Gesundheit und Eignung für diese besondere Aufgabe.

Nelly Youssef

Aus dem Arabischen von Stefanie Gsell

© Qantara.de 2004