Produktive Missverständnisse

Zweimal hatte die "Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung" arabische Poeten nach Deutschland eingeladen. Nun waren deutsche Lyriker in Rabat zu Gast. Stefan Weidner über die Schwierigkeiten der Annäherung und über Missverständnisse.

Marokkanische Flagge im Wind, Foto: Larissa Bender
Die marokkanischen Poeten erhofften sich von dem Workshop mit den deutschen Kollegen Impulse zur "Modernisierung" der Poesie.

​​Im Herbst 2003 hatte die "Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung" arabische Lyriker zu einer langen Nacht der arabischen Poesie in Darmstadt und - nach der Buchmesse 2004 - zu einer Klausurtagung im kleinen Kreis eingeladen. Anstelle feierlicher Reden oder breit angelegter Diskussionsrunden stand die wechselseitige Lektüre der Gedichte im Vordergrund.

Schon die Besprechung weniger Zeilen offenbarte die kulturellen Differenzen und Missverständnisse auf unerwartete Weise. Nun fand vor kurzem auf Einladung der Marokkaner die Fortsetzung an der Universität Rabat statt.

Lediglich zwei Tage Textarbeit waren in Anbetracht des Aufwands vielleicht zu wenig, bestätigten aber die Erfahrung vom letzten Treffen: Dichtung bündelt die interkulturellen Probleme wie in einem Brennglas. Eindrucksvoll erwies sich dies an den Auseinandersetzungen um die provisorischen Übersetzungen, zugleich Angel- und Schwachpunkt der wechselseitigen Rezeption.

Begriffsverwirrungen

Ein Beispiel dafür bot gleich zu Anfang Hartungs Gedicht mit dem Titel "Ghasel", das der Autor aufgrund seiner vermuteten Nähe zur arabischen Poetik auswählte, das bei den arabischen Teilnehmern jedoch Verwirrung auslöste.

Während nämlich in der deutschen Poetik das Ghasel bloß den formalen Aspekt eines orientalisierenden Reimschemas bezeichnet, ist die "Ghasel" genannte Gattung in der arabischen Tradition rein inhaltlich als Liebesgedicht definiert, von Liebe indessen spricht Hartungs "Ghasel" nicht.

So erweist sich gerade die orientalisierende Pointe von Hartungs Gedicht als unübersetzbar. Und da in der Übersetzung auf eine Nachahmung des Reims verzichtet wurde, war die Verwunderung groß, als die arabischen Teilnehmer erfuhren, dass es sich nicht, wie es auf Arabisch schien, um ein modernes Prosagedicht, sondern um einen Text von fast klassischer Strenge handelte.

Befreiung von poetischer Strenge

Denn gerade von der poetischen Strenge der übermächtigen Tradition wollen sich die arabischen Dichter heute befreien. Und wenn von den Marokkanern als Titel der Tagung "Übersetzung und Modernisierung der Lyrik" gewählt wurde, verknüpfte sich dies explizit mit der Hoffnung, aus den Übersetzungen der deutschen Poesie neue Impulse zur poetischen "Modernisierung" zu bekommen.

Waren die Motive der deutschen Teilnehmer auch nicht so explizit formuliert, so verband sich mit der Lektüre der arabischen Poesie doch auch die Hoffnung, ein inspirierendes Gegengewicht zur postmodernen poetischen Beliebigkeit zu finden.

Implizit fand sich diese Hoffnung bereits in den Texten der deutschsprachigen Teilnehmer formuliert: In der Nutzung des Reims als Generator von Bedeutung bei Ilma Rakusa, in der Anlehnung an einen alttestamentarischen Gottesbegriff bei Klaus Reichert, im Rückgriff auf die griechische Mythologie bei Joachim Sartorius.

Wie um zu illustrieren, dass die Erwartungshaltung die Rezeption steuert, wurden ausgerechnet diese Aspekte von den arabischen Teilnehmern nur zögerlich akzeptiert und bezeichnenderweise schon in der Übersetzung durchgängig abgemildert.

Fruchtbarer Dialog

Die arabische Dichtung der Marokkaner hingegen wurde von den deutschen Teilnehmern oft als vage und unpräzis empfunden. Ihre Leistung beruhte für deutsche Ohren vor allem im Klanglichen, und dies, obwohl alle arabischen Dichter freie Verse ohne Reim oder Prosagedichte vortrugen. Die Tradition war bei ihnen, wenn überhaupt, nur in der (meist ins Säkulare gewendeten) religiösen Bedeutungsfülle mancher Wörter und Begriffe gegeben, die in der Übersetzung verloren geht.

Ob aber eines der erklärten Ziele der Marokkaner erreicht wurde, nämlich der modernen marokkanischen Poesie endlich Gehör zu verschaffen, bleibt offen, bis gültige Übersetzungen vorliegen, die dann in einer Anthologie erscheinen sollen. Wichtiger als neue Druckschriften ist jedoch die Fortsetzung dieses außergewöhnlichen Dialogs.

Unter den vielen Dialog- und Begegnungsmodellen, mit denen man seit dem 11.9.2001 experimentiert hat, kristallisiert sich dieses vermeintlich elitärste überraschend als das viel versprechendste und produktivste heraus. Und ganz nebenbei beweist es einmal die große Nützlichkeit der Poesie.

Stefan Weidner

© Qantara.de 2005

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