Syriens "Generation vaterlos"

Auf dem ersten Filmfestival unabhängiger Regisseure in Damaskus zeigten arabische Jungfilmer, dass sie das nationalistische Pathos ihrer Väter längst hinter sich gelassen haben und zu eigenwilligen Filmen in der Lage sind. Von Mona Sarkis

Filmkulisse; © Foto: Agop Kanledjian
Syriens junge Filmemacher können mit dem nationalistischen Erbe der 70er und 80er auf der Kinoleinwand thematisch wenig anfangen und gehen heute eigene Wege

​​Dass Omar Amiralay nichts von dem wusste, was Anfang Juni erstmals in Damaskus stattfand, spricht eine deutliche Sprache:

Während des ersten Festivals des unabhängigen arabischen Films konnte man 53 unabhängige Filmproduktionen - mehrheitlich aus Syrien - sowie sechs staatliche Kurzfilme auf der Leinwand verfolgen.

Dass dem Altmeister des syrischen Films dieses Kulturevent entging, beweist die Distanz, die zwischen seiner Generation und den heutigen Jungfilmern besteht. Dabei widmet sich Amiralay derzeit ganz dem cineastischen Nachwuchs: So ist er gegenwärtig mit dem Aufbau einer Filmhochschule in Amman beschäftigt, wie sie im arabischen Raum noch fehlt.

Baschar Ibrahim, Festival-Organisator und Chefredakteur des syrischen Kunst- und Kulturmagazins "Al-Warda", begrüßt die Initiative – sofern Amiralay nicht die Rolle des Vaters übernehme, denn diese Jugend habe keine Väter, so Ibrahim.

Kluft zwischen den Generationen

Dem 25-jährigen Rami Farah spricht er damit aus der Seele: die Generationenfrage steht bei ihm ganz oben. Die Jugend habe ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Und welche? Jedenfalls nicht die, die ihr von anderen aufgezwungen wurden, so Rami.

Zweifellos meint er damit die Generation der Väter, für die politische Themen im Mittelpunkt des filmischen Schaffens standen, wie etwa der Palästinakonflikt, die Besetzung des Golans, der Panarabismus, der Imperialismus, die verlorenen Kriege etc. Viel eher möchte Rami, der am "Höheren Institut für Dramatische Kunst" in Damaskus Tanz studiert, sich selbst finden und sich ausdrücken.

"Das große nationalistische 'Traraaa' der 70er und 80er Jahre hat sich gelegt", sagt er, "die heutigen Fragen lauten nicht: 'Wie befreie ich Palästina?', sondern: 'Kann ich mich selbst verwirklichen – und wenn ja, wie?'", erklärt Ibrahim, und Rami bestätigt das: "Ich muss keine Antworten finden, sondern Fragen stellen. Wenn ich frage, spüre ich meine Kraft."

Doch herauszufinden, wo genau man steht, ist nicht leicht. In dem Kurzfilm "Punkt" von 2003 zeigt Rami einen Fleck in der Landschaft, der immer größer wird: Ein Mann rennt auf die Kamera zu. Dort angelangt, lacht er dem Zuschauer entgegen, ängstigt sich aber plötzlich und rennt wieder dahin zurück, woher er gekommen ist.

Politik und Zensur

Zu Ramis Film-Clique gehört auch der 31-jährige Adnan al-Ouda, der zu dem Verhältnis der Jugend zur syrischen Politik eine dezidierte Meinung hat: "Wir sind nicht politisch, kennen nicht einmal die Abgeordneten im Parlament – sie uns aber auch nicht, und das ist der Punkt. Denn wir wollen keine Nummern in einem staatlichen Gefüge sein."

Politische Konflikte beginnen für den Autor bereits allein durch die Zweiteilung der Sprache in Hocharabisch und einen landestypischen Dialekt. So wurde ihm schon einmal die Veröffentlichung eines Manuskripts verboten, weil dieses in der volksnahen Umgangssprache gehalten war.

Die Zensurmaßnahmen der "nationalen Filmorganisation" seien allerdings nur halb so dramatisch wie angenommen, beschwichtigt Ibrahim.

"Ich kann meinen Film unabhängig von oder mit der Organisation produzieren. Wer letzteres macht, bekommt bei allen Produktionsfaktoren staatliche Hilfe. Auf die Drehbücher aber hat das keinen Einfluss." Von der Zensur sei weit häufiger ein 'Ja, aber …', als ein definitives 'Nein' zu erwarten.

"Was erlaube ich mir selbst?"

Rigider erscheint Ibrahim dagegen eine andere Art der Zensur: "Am schlimmsten sind gesellschaftlich gestrickte Tabus. Wir wachsen in Gemeinschaften auf, werden von ihnen beherrscht und fürchten die Reaktionen von Eltern und Nachbarn, wenn wir ihre Tabus brechen. Eine große Frage für die Jugend ist daher, was erlaube ich mir selbst?"

Eine offene Diskussion über Sexualität gehört definitiv nicht dazu. Auffallend oft hingegen wird unerfüllte – weil an gesellschaftlicher Enge gescheiterte – Liebe thematisiert. So auch der Kurzfilm "Von der Liebe" von Walid Hrein:

Zwei einsame Alte in einem Park kommen sich näher, beginnen zu tanzen und verwandeln sich während ihres Walzers in ein jugendliches Liebespaar. Erst das hämische Gelächter der Parkbesucher schreckt die beiden aus ihrem Traum auf. Beschämt flüchtet jeder wieder in seine Ecke. Der Film erhält großen Beifall.

Dass Selbstbefragungen so hoch im Kurs stehen, resultiert nicht allein aus der Hohlheit des "Freiheits"- und "Einheits"-Getöses, glaubt Ibrahim. Zwar seien die politischen Diskurse, die noch Großmeister wie Amiralay oder Muhammad Mallas prägten, verblichen – doch blieben "Dauerbrenner" wie Palästina weiterhin präsent. Allein das Geld für eine moderne filmische Umsetzung fehle, so Ibrahim.

Desolate Filmindustrie

Im Gegensatz zu Ägypten habe Syrien seine Filmindustrie vernachlässigt. Von ihr könne man sogar überhaupt nicht sprechen, da es keinen Vertrieb, nicht einmal ausreichend Kinos gäbe. Die meisten befänden sich zudem in desolatem Zustand.

Auftrieb habe erst die Einführung digitaler Technologien gebracht. Ramis Film-Clique bezahlt ihre Filme selbst: 80 Dollar für 40 Sekunden, mit der Digicam und ein paar Freunden läuft fast alles. Es sei denn, man hat Glück und findet einen internationalen Koproduktionspartner.

Dem Palästinenser Raed Andoni ist dies gelungen: Mit Arte France realisierte er 2005 den Film "Improvisationen", die Geschichte der Joubran-Brüder, dreier international gefragter palästinensischer Lautenspieler. Wie der Titel verrät, dreht sich alles um Improvisationen – in der Musik wie im Besatzungsalltag.

Es ist eine Dokumentation voller ungestellter Debatten und einfühlsamer Kameraperspektiven, die Wahnsinn und Leid im besetzten Land vor Augen führen – und dabei auch die müden Gesichter der israelischen Soldaten zeigen. Palästina, das große Thema, nur diesmal eben ganz unpathetisch und deshalb umso bewegender.

Mona Sarkis

© Qantara.de 2006

Qantara.de

Interview Omar Amiralay
"Mein Optimismus ist so dünn wie ein Haar"
Der syrische Regisseur Omar Amiralay beteiligte sich mit drei Filmen am Projekt "Middle East News", das Ende Januar in Berlin unter der Leitung der Kuratorin Catherine David stattfand. Youssef Hijazi sprach mit ihm über seine Filme, die Rolle der Intellektuellen und der Baath-Partei in Syrien.

Arabisches Kino
Aufbruch einer neuen Dokumentarfilmkultur
Wer mit Filmkultur in der arabischen Welt nur ägyptische Seifenopern oder intellektuelle Elitefilme verbindet, liegt falsch. Denn seit einigen Jahren ist das arabische Interesse am Dokumentarfilm deutlich gewachsen. Von Christina Förch aus Beirut

Interview mit Bader Ben Hirsi
"Ich wollte einen Film machen, den man überall versteht"
Der in London lebende Bader Ben Hirsi hat mit "Ein neuer Tag in Alt-Sanaa" den ersten jemenitischen Spielfilm gedreht, der bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde. Auch beim 6. Arabischen Filmfestival in Rotterdam erhielt er den Silbernen Falken. Larissa Bender hat ihn dort getroffen.