Anpassung an zeitgemäße Lesarten des Islam

Ist das islamische Recht mit Demokratie und Menschenrechten vereinbar? Einer der bekanntesten Reformer der iranischen Geistlichkeit weiß hierauf Antwort und fordert damit die islamische Orthodoxie heraus. Von Bahman Nirumand

Ist das islamische Recht mit Demokratie und Menschenrechten vereinbar? Einer der bekanntesten Reformer der iranischen Geistlichkeit weiß hierauf Antwort und fordert damit die islamische Orthodoxie heraus. Der Journalist Bahman Nirumand berichtet über einen progressiven wie unbequemen Reformtheologen.

Mohsen Kadivar, 1959 geboren, wollte eigentlich Elektroingenieur werden. Doch nach wenigen Semestern kehrte er der Technischen Hochschule in der südiranischen Stadt Schiraz den Rücken und begab sich in die Heilige Stadt Ghom, wo er sich 17 Jahre lang am Theologischen Zentrum dem Studium des islamischen Rechts, der Philosophie und der Mystik widmete.

Zwei Jahre später promovierte er an der Hochschule für Lehrerausbildung. Die Jahre danach verbrachte er als Lehrer und Forscher. Er hat bisher zwölf Bücher veröffentlicht und zahlreiche Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften geschrieben. Zurzeit lehrt er an der philosophischen Abteilung der Hochschule für Lehrerausbildung.

Der steinige Weg des streitbaren Geistlichen

Charakteristisch für Kadivar ist, dass er seine theologisch-philosophischen Erkenntnisse unverblümt und konsequent in die Politik, ja oft sogar in die Alltagspolitik umsetzt. Dies ist – angesichts der Härte und Brutalität, mit der die herrschenden Islamisten gegen ihre Kritiker vorgehen – ein höchst riskantes Unternehmen ist.

Tatsächlich bescherte ihm ein Interview in der Tageszeitung Khordad 18 Monate Gefängnis. Grund: Er hatte nach 20 Jahren Islamische Republik Bilanz gezogen und einen Vortrag über die "Verurteilung des Terrors aus religiöser Sicht" gehalten.

Doch trotz aller Gängelung ließ sich Kadivar nicht einschüchtern. Bei einer Gedenkfeier anlässlich der Mordserie von 1998, in deren Verlauf das Politikerehepaar Forouhar sowie die beiden Schriftsteller Mohammad Mokhtari und Mohammad Dajafar Pujandeh ermordet wurden, sagte er:

"Ich bin vor fünf Jahren zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt worden, weil ich gegen die bestialischen Morde protestiert hatte. Heute möchte ich meine Äußerungen von damals wiederholen."

Es habe zwar Scheinprozesse gegen einige Täter gegeben, nicht aber gegen deren Auftraggeber. Diese müssten endlich vor Gericht gestellt werden, forderte Kadivar, der zugleich Vorstandmitglied des "Vereins zur Verteidigung der Meinungsfreiheit" ist.

Zwei Lesarten des Islam

Eines der Hauptanliegen Kadivars ist - wie bei den meisten Reformern - das islamische Recht. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht die Frage, ob das islamische Recht, die "Scharia", mit der Konvention der Menschrechte und der Demokratie vereinbar ist.

Kadivars Antwort gehört zu den radikalsten, die bisher öffentlich geäußert wurden: So gebe es zwei Lesarten des Islam, eine traditionelle und eine moderne, sagt er.

Die traditionelle Lesart sei mit den Grundsätzen der Menschenrechte und der Demokratie gänzlich unvereinbar, stellt er in einem Interview mit der iranischen Zeitschrift "Aftab" fest.

Diese Unvereinbarkeit betreffe jedoch nicht nur Auslegungen, die im Verlauf der Geschichte Gläubige in die Irre geführt hätten. Sie schließe auch die wichtigsten Säulen des islamischen Glaubens ein, das heißt also den Koran und die Worte und Handlungen des Propheten (Hadith).

Diese Feststellung ist mehr als revolutionär, wenn man in Betracht zieht, dass es sich beim Koran, nach Auffassung der Muslime, um die Worte Gottes und bei den Aussagen des Propheten um die Eingebung Gottes handelt.

Kadivar weist nach, dass es im Islam zwar unterschiedliche Rechte gibt, die verschiedene Gruppen – wie die Mitglieder der islamischen Gemeinde, Christen und Juden oder Männer und Frauen – betreffen.

Es gebe jedoch keinerlei Rechte, die für alle Menschen Geltung haben, unabhängig von ihrer Glaubenszugehörigkeit, ihrem Geschlecht und ihrer gesellschaftlichen Position. Ohne Menscherechte könne es aber auch keine Demokratie geben, meint Kadivar.

Islam und Menschenrechte – ein unlösbarer Konflikt?

Welcher Ausweg könnte aber aus diesem Dilemma herausführen? Unter den Gelehrten, die eine Anpassung des Islam an Demokratie und Menschenrechte anstreben, gäbe es unterschiedliche Bestrebung, schreibt Kadivar.

Einige seien bemüht, bestimmte Vorschriften, die im Widerspruch zu den Menschenrechten stehen, "so weit wie möglich aus dem Schaufenster des Islam herauszunehmen oder sie zu rechtfertigen", andere "versuchen, aus den vorliegenden Schriften jene Stellen hervorzuheben, die mit den Menschenrechten in Einklang stehen."

Mit dieser Flickschusterei will sich Kadivar nicht zufrieden geben. Es bestehe kein Zweifel darüber, dass es nicht nur in den Überlieferungen, sondern auch im Koran selbst gewisse Vorschriften gebe, die im Widerspruch zu den Menschenrechten stehen.

Entscheidend sei, wie man mit diesen Vorschriften umgehe. Der traditionelle Islam betrachte den Koran als Worte Gottes – Worte, die unantastbar und für die Ewigkeit bestimmt seien. Der moderne Islam lehne diese Auffassung für bestimmte Bereiche ab.

Historisierung des Rechts als Königsweg

Die gesamte Lehre des Islam kann man in vier Teile einteilen, sagt Kadivar. Die ersten drei Teile betreffen den Glauben an Gott und an den Propheten, die Ethik und Moral und das Gebet.

Diese Bereiche seien unantastbar und für die Ewigkeit bestimmt. Nicht jedoch der vierte Bereich, der das Zusammenleben der Menschen in einer Gemeinschaft regelt, wie etwa das Handelsrecht, Individualrecht, Strafrecht und dergleichen mehr.

Alle Vorschriften in diesem Bereich sind – nach Auffassung der Modernisten – zeitlich bedingt und können, ja müssen, entsprechend der jeweiligen Erfordernissen der Zeit geändert werden – auch dann, wenn sie im Koran stehen.

Diese Historisierung des islamischen Rechts ist der eigentliche Schlüssel, der die Pforten zu der modernen Welt, zu Menschenrechten und Demokratie, öffnet.

Wie die Menschen ihr Zusammenleben regeln, wie sie also die Politik, Erziehung und Bildung gestalten, wie sie Verbrechen und Vergehen ahnden – das regeln der Verstand, die Vernunft, die Erfahrung, die Wissenschaft – aufgrund realer Verhältnisse – die sich permanent verändern.

Das bedeutet jedoch in letzter Konsequenz, dass die islamische Gesetzgebung neu geschrieben und sich die Politik von der Religion trennen müsste.

Bahman Nirumand, © Qantara.de 2003

Bahman Nirumand hat in München, Tübingen und Berlin Germanistik, Philosophie und Iranistik studiert. Unter dem Schah-Regime wurde er politisch verfolgt und mußte in den 60er Jahren den Iran verlassen. Heute arbeitet er als freier Journalist in Berlin.

Mehr über Mohsen Kadivar erfahren Sie auf seiner Website, die auf Farsi und Englisch publiziert wird. Klicken Sie hier