Mehrheit für Trennung von Religion und Politik

In den Niederlanden bilden Muslime die drittgrösste Religionsgemeinschaft. Laut einem kürzlich veröffentlichten Bericht befürwortet eine klare Mehrheit von ihnen eine Trennung von Religion und Politik. Von René Vautravers

Muslime bilden die drittgrösste Religionsgemeinschaft in den Niederlanden. Laut einem kürzlich veröffentlichten Bericht befürwortet eine klare Mehrheit von ihnen eine Trennung von Religion und Politik. Von René Vautravers

Muslime aus Nordafrika, Foto: Markus Kirchgessner
Muslime aus Nordafrika

​​Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und nach dem Wahlerfolg der Rechtspopulisten 2002 hat sich das Bild, das viele Niederländer von ihren 900.000 muslimischen Mitbürgern haben, stark verändert.

Oft wird den Muslimen vorgeworfen, sie seien intolerant gegenüber westlichen Lebensanschauungen. Gleichzeitig ist der Wissensstand der einheimischen Bevölkerung über den Islam sehr gering, wie jüngst auch die Integrationsministerin Verdonk erklärt hat.

Ein Gesamtbild über den Islam zu bekommen, ist wegen der verschiedenen Strömungen und der grossen nationalen Unterschiede innerhalb der Religionsgemeinschaft ein äusserst schwieriges Unterfangen.

Interessant ist freilich, dass der Trend hin zur Säkularisierung, der sich seit geraumer Zeit unter der einheimischen Bevölkerung abzeichnet – mehr als 40 Prozent bezeichnen sich weder als protestantisch noch als katholisch –, zunehmend auch unter der muslimischen Bevölkerung zu beobachten ist.

Rückgang der Besuche von Moscheen

Zwar kennt die Religionsgemeinschaft ein überdurchschnittlich grosses Netzwerk von islamischen Organisationen und Institutionen wie Schulen, Jugend- und Frauenverbänden. Lediglich 1 Prozent der Niederländer marokkanischer Herkunft und 7 Prozent der Niederländer türkischer Herkunft sind in einer der mehr als 300 Moscheen des Landes als Mitglieder eingeschrieben.

Zu diesem Ergebnis kommen die Verantwortlichen des Sociaal en Cultureel Planbureau (SCP), die im Auftrag des Haager Parlaments die Studie "Muslime in den Niederlanden" erstellt haben.

Laut den Autoren des Berichts sind beispielsweise die Besuche von Moscheen stark rückläufig. Besuchten 1998 noch 44 Prozent aller Türken ein Gebetshaus, lag die entsprechende Quote vier Jahre später nur noch bei 35 Prozent. Immer weniger populär scheinen auch die muslimischen Schulen zu werden. Nur noch 23 Prozent der marokkanischen Kinder gingen 2002 in eine muslimische Schule, während dies 1998 noch 38 Prozent gewesen waren.

Die Integration braucht Zeit

Vor allem zwischen der ersten und der zweiten Generation sind grosse Unterschiede auszumachen. Ältere Männer, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten oft arbeitslos und auch nach Jahren mit schlechten Kenntnissen der niederländischen Sprache, sind die treusten Besucher von Gottesdiensten und in ihrer Auffassung gleichzeitig die Konservativsten.

Es erstaunt deshalb wenig, dass laut dem Bericht der Islam für junge, gut ausgebildete und somit gut integrierte Muslime im täglichen Leben immer unwichtiger wird. Das gilt auch für das Fasten während des Ramadan.

Diese Einschätzungen decken sich mit dem Standpunkt von Jack Burgers, der an der Rotterdamer Erasmus-Universität Urbanismus lehrt. Seiner Ansicht nach sind bis zu einer erfolgreichen Integration zwei Generationen notwendig.

Die Identifizierung mit der Religion ist laut dem Bericht "Muslime in den Niederlanden" allerdings bei vielen Marokkanern und Türken unverändert gross. Zwei Drittel fänden, die Religion sei eine persönliche Angelegenheit, während sich ein Drittel eine wichtigere Rolle der Religion im öffentlichen Leben wünsche.

Eine deutliche Mehrheit sei demgegenüber der Meinung, Religion und Politik sollten klar voneinander getrennt sein. Lediglich ein sehr kleiner Teil der Muslime nehme an religiös-politischen Aktivitäten teil, die im Widerspruch zu den demokratischen Rechten und Freiheiten stünden.

Gefahr einer negativen Spirale

Eine Minderheit von jungen Muslimen empfinde die Gesellschaft als feindlich und diskriminierend; dadurch könne eine negative Spirale entstehen, die zu ethnischen Spannungen führen könne, schreiben die Autoren des Berichts. Innerhalb der Gemeinschaft bestünden aber auch grosse Unterschiede bei Fragen wie Glaubensverlust, Partnerwahl und Besuche von Moscheen.

Ferner habe die Identifizierung mit dem Islam für Frauen mehr verpflichtende Konsequenzen als für Männer. Die öffentlich geführte Diskussion rund um den Islam drehe sich vor allem um Fragen, die auch bei andern Religionen früher im Zentrum gestanden seien.

Die Autoren nennen in diesem Zusammenhang Themen wie Bildung, Homosexualität und das Verhältnis zwischen Frauen und Männern. Die Verantwortlichen des SCP gehen davon aus, dass sich der Trend zur Säkularisierung und Individualisierung unter den Muslimen weiter verstärken wird.

René Vautravers

© Neue Zürcher Zeitung, 27.07.2004