Aufschrei der Entrechteten

Seit 20 Jahren benachteiligt das algerische Familiengesetz die Frauen und stempelt sie lebenslang zu Minderjährigen ab. Dagegen haben jetzt algerische Frauen aus dem In- und Ausland eine ehrgeizige Kampagne gestartet. Martina Sabra stellt die Initiative vor.

Seit 20 Jahren benachteiligt das algerische Familiengesetz Frauen gegenüber Männern und stempelt sie lebenslang zu Minderjährigen ab. Jetzt haben algerische Frauen aus dem In- und Ausland eine Kampagne ins Leben gerufen: "Vingt ans barakat - 20 Jahre sind genug". Martina Sabra stellt die Initiative vor.

CD-Logo
Kampagne 'Vingt ans barakat' - '20 Jahre sind genug'

​​Seit Januar 2004 ist in Marokko eines der fortschrittlichsten Familiengesetze der arabischen Welt in Kraft. Kurz darauf rief Algeriens Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika eine Kommission zusammen, die Rechtsreformen zugunsten von Frauen untersuchen sollte.

Doch die meisten Menschen- und Frauenrechtsaktivistinnen in Algerien sind sich sicher: Nach der algerischen Präsidentschaftswahl am 8. April wird auch diese Kommission wieder in der Schublade verschwinden.

Bewegte Bilder und Rhythmen für die Rechte der Frau

Damit das Thema trotzdem im Gespräch bleibt, haben daher algerische Frauen aus dem In- und Ausland die Kampagne "Vingt ans barakat" gegründet: Auf ihrer CD wird mit Musik und bewegten Bildern Stimmung gemacht – für das Gute.

Die Rai- und Latin-Rhythmen auf der CD laden zum Tanzen ein. Die Frauenstimmen aus dem afrikanischen Gabun, aus Argentinien und aus Algerien gehen unter die Haut. Doch das Thema ist ernst: Es geht um die Würde der Frau, besonders um die der Algerierin.

Aus dem Wutschrei ist binnen kurzer Zeit eine Kampagne geworden. "He, Richter! Hast du Angst vor mir? Hör auf, mich zu verfolgen, sondern schreib auf: Ich will meine Würde jetzt!", singen die Musikerinnen und Musiker auf der CD. Dabei wechseln sie zwischen den drei Hauptsprachen des Maghreb: Arabisch, Berberisch und Französisch.

Algeriens Familiengesetz - ein Rückblick

Das algerische Familiengesetz trat am 9. Juni 1984 in Kraft, also vor fast zwanzig Jahren. Bis 1984 hatte in Algerien ein provisorisches Recht aus der französischen Kolonialzeit gegolten. Die Übergangsregeln waren für Frauen in vieler Hinsicht von Vorteil.

Doch nach und nach wurden die Rechte der Frauen immer weiter eingeschränkt. Tätliche Angriffe gegen allein lebende oder emanzipierte Frauen häuften sich. 1984 beschloss das von Männern dominierte algerische Parlament das neue Familiengesetz.

Die Kernpunkte machten das Gesetz in den Augen vieler Algerierinnen zu einem Akt der so genannten "hogra", der Verachtung des Volkes:

  • Wenn die Frau heiraten will, braucht sie einen männlichen Vormund.
  • Die Scheidung ist ausschließlich Recht des Mannes. Die Frau kann ihre Scheidung nur erkaufen, sie muss ihren Mann bezahlen, um sich scheiden zu lassen.
  • Wenn ein Mann sich von seiner Frau scheiden lässt, muss sie sich um die Kinder kümmern, aber die gemeinsame Wohnung trotzdem verlassen.

Auswirkungen auf die europäischen Nachbarstaaten

Viele glauben, dass die Familiengesetze in islamischen Ländern für Europa kein Thema seien. Doch die Familiengesetze aus Marokko und Algerien haben für Menschen in Europa manchmal überraschende Auswirkungen.

Denn für Leute mit nordafrikanischem Pass, die in Nordafrika heiraten, oder in der Botschaft des Heimatlandes eine islamische Ehe schließen, gilt das Familienrecht des Heimatlandes in vielen Fällen auch dann, wenn sie in Deutschland oder in Frankreich leben.

Der Grund dafür sind die so genannten "bilateralen Abkommen". Dabei handelt es sich um besondere Vereinbarungen, in denen die europäischen Staaten für bestimmte Bewohner die Gesetze des jeweiligen Herkunftslandes anerkennen.

So musste eine marokkanische Ehefrau in Deutschland sich damit abfinden, dass ihr Ehemann in Marokko eine Zweit- oder Drittfrau genommen hatte und ihr deshalb die Rente gekürzt wurde. In Frankreich gilt dasselbe für marokkanische und algerische Frauen.

Unter anderem deshalb haben die Algerierinnen vom Süd- und Nordufer des Mittelmeers - aus Algerien und Frankreich - sich dafür entschieden, das Familiengesetz gemeinsam zu bekämpfen.

Die CD und das Video wurden mit Hilfe algerischer Frauenorganisationen und des "Global Fund for Women" produziert. Ziel ist, möglichst viele Menschen für die Kampagne zu begeistern - auch jene, denen der Islam heilig ist. Sie seien nicht gegen die Religion, und der Islam sei auch nicht per se frauenfeindlich, sagen die Initiatorinnen der „Vingt ans barakat"-Kampagne. Doch das Familiengesetz von 1984 beruhe auf einer sehr diskriminierenden Interpretation der islamischen Rechtsquellen.

Es sei an der Zeit, diese Quellen endlich anders zu lesen - und zwar frauenfreundlicher. Ourida Chouaki ist Physikprofessorin an der Uni Algier, Vorsitzende der Frauenorganisation "Tharwa Fatma N'soumeur" und Koordinatorin der Kampagne in Algerien. Sie erklärt, dass sie persönlich Staat und Religion trennen und das islamische Familienrecht ganz abschaffen würde.

Doch mit solchen Maximalforderungen hätten algerische Feministinnen in der Vergangenheit nichts erreicht. "Uns ist klar geworden, dass viele Leute gar nicht wissen, was in diesem Gesetz überhaupt steht. Deshalb ist das Ziel dieser Kampagne, zunächst einmal so viele Menschen wie möglich zu informieren", sagt Ourida Chouaki.

"20 Jahre sind genug" - eine erfolgreiche Bilanz

Der hervorragend gemachte Video-Clip zum Song zeigt neben den Musikerinnen und Musikern starke Bilder algerischer Frauen: von den Befreiungskämpferinnen der 50er Jahre bis zur berühmten algerischen Langstreckenläuferin Hassiba Boulmerka. Sie gewann bei einer Olympiade die erste Goldmedaille aller Zeiten für Algerien. Später wurde sie von religiösen Fanatikern bedroht, weil Läuferinnen in kurzen Hosen angeblich "unislamisch" seien.

Neben der CD und dem Video-Clip organisieren die Initiatoren der Kampagne auch Vorträge, Konferenzen, einen Plakatwettbewerb für Erwachsene und Schulkinder sowie einen Rechtsratgeber und Werbeanzeigen in der Presse. Um Menschen in allen Ecken des Riesenlandes Algerien und auch in Frankreich anzusprechen, nutzen die Initiatoren der Kampagne auch das Internet.

Das Echo sei bisher enorm, sagt Ourida Chouaki. Nur das Fernsehen bleibt bisher noch außen vor: Karim Amiti, ein beliebter Moderator, durfte die CD der Kampagne nur in die Kamera halten.

Die Musik war nicht zu hören, und der Video-Clip nicht zu sehen. "Zum Fernsehen, dem mit Abstand wichtigsten Medium, haben wir nicht wirklich Zugang. Das ist schade, weil man hier die meisten Leute erreicht, aber wir geben die Hoffnung nicht auf", sagt Chouaki.

Martina Sabra

© Qantara.de 2004