Verpasste Chance für eine Reform?

Warum sind von muslimischen Denkern in Europa in den letzten Dekaden kaum die einst erhofften Impulse zu einer Reform des Islam ausgegangen, fragt François Zabbal, Chefredakteur der französischen Zeitschrift Qantara.

"Europa ist eine Chance für den Islam!" - so hiess es einmal; und auch heute wird wieder die Vision eines modernen, aufgeschlossenen "Euro-Islam" beschworen. Warum aber sind von muslimischen Denkern in Europa in den letzten Dekaden kaum die einst erhofften Impulse zu einer generellen Reform des Islam ausgegangen, fragt François Zabbal, Chefredakteur der vom Institut du Monde Arabe herausgegebenen Zeitschrift Qantara.

Francois Zabbal, Foto: privat
Francois Zabbal

​​Der 1994 verstorbene grosse französische Orientalist Jacques Berque sagte oft, dass Europa Ausgangspunkt der Erneuerung des Islam sein werde.

Er liess dieser Behauptung nie eine Begründung folgen; doch gewiss stand der Gedanke dahinter, dass das in europäischen Universitäten und Bibliotheken gespeicherte Wissen, im Verein mit einem Klima der geistigen Freiheit, die besten Grundlagen für eine letztlich heilsame und stärkende Kritik an jenen Traditionen bot, die den Islam am selbstsicheren Eintritt ins zwanzigste Jahrhundert hinderten.

Lebte er noch, so wäre Berque wohl überrascht zu sehen, dass sich in diesem günstigen Umfeld keineswegs die vielversprechendsten und zukunftsweisenden Denkströmungen des Islam entwickelten.

Letztlich sind es in Europa aufgewachsene und zum Aktivismus tendierende Muslime, die heute das Fundament eines europäischen Islam ausmachen. Sie sind es, die ihren Glaubensgenossen auf die Fragen antworten, mit denen Muslime auf der Suche nach einem eigenen und gefestigten Ort in einem christlich geprägten Umfeld konfrontiert sind.

Aber es fehlen in diesem Prozess die Reformer, wie Berque sie sich wünschte: Denker von hohem Niveau, welche die Erneuerung im Rahmen eines fruchtbaren Austausches mit dem okzidentalen Denken angehen.

Ende einer Tradition

Es ist eigentlich überraschend, dass die vergangenen fünfzig Jahre ein so enttäuschendes Resultat gezeitigt haben - trotz gelegentlichen Schüben echten Reformgeists. Im Gegensatz dazu traten in früheren Generationen gesellschaftlich richtungsweisende Persönlichkeiten auf, deren Denken im Kontakt mit der Kultur des Okzidents gereift war; man kann guten Gewissens behaupten, dass eine eigentliche Dynastie europäisch geprägter muslimischer Gelehrter die religiösen Traditionen hinterfragt und neue Denkwege erschlossen hat.

Sie beginnt mit Scheich Tahtawi, der 1836 vom Gouverneur Ägyptens nach Frankreich entsandt wurde, und reicht bis zu Sanhuri, der in Frankreich studierte und 1949 jene Synthese aus europäischem und islamischem Recht schuf, die dem ägyptischen Zivilrecht zugrunde liegt. Als weiterer Exponent wäre Taha Hussein zu nennen, der sich nicht scheute, in den zwanziger Jahren den sakralen Status des Arabischen in Frage zu stellen.

Ihren Nachfolgern fehlte es an vergleichbarem Mut, mehr noch aber am entscheidenden kulturellen und moralischen Imperativ. Denn die Reform einer Religion kann nicht ausserhalb eines bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Kontexts stattfinden; und derjenige, den die muslimischen Intellektuellen seit den sechziger Jahren in Europa vorfanden, war und ist einem solchen Vorhaben nicht förderlich.

Die Hauptgründe dafür liegen einerseits in der Art der religiösen Fragestellungen, anderseits in den impliziten oder expliziten Interpellationen seitens der Gesellschaft der Gastländer.

Konformität religiöser Praxis im Vordergrund

Seit den achtziger Jahren ist das Bedürfnis nach einer adäquaten Neugestaltung des religiösen Lebens innerhalb der Gemeinschaften muslimischer Migranten in Europa immer dringlicher und spürbarer geworden. Die Voraussetzungen hiefür schienen eigentlich in mehr als einer Hinsicht günstig:

Einerseits existierte keine konsolidierte traditionelle geistliche Führerschaft von Imamen, anderseits hätte der Prozess der Individualisierung theoretisch dem Einzelnen ein grösseres Mass an Entscheidungsfreiheit verschaffen sollen, wie er sich im neuen, europäischen Kontext als Muslim definieren und seinen Glauben leben wollte.

Stattdessen fand eine gegenteilige Entwicklung statt. Der Islam ist grundsätzlich eine Orthopraxis - also eine Religion, die in erster Linie ein vorschriftsgemässes Handeln fordert; und da gerade die weniger gebildeten Schichten, die den Hauptharst der Migranten stellen, vorab an diesbezüglichen Problemen interessiert sind, fokussierte sich die Diskussion sehr bald auf Fragen der Konformität religiöser Praktiken im Licht der geheiligten Texte und der Tradition.

Damit mobilisierte sie vorab Aktivisten verschiedenster Couleur und die mittlerweile stark präsente Front der Fundamentalisten.

Das Trugbild der Denker

Gleichzeitig haben es die "grossen Denker" - und es gibt sie, in Europa wie in der islamischen Welt, durchaus noch - versäumt, eine valable Alternative bereitzustellen. Während sie sich einlässlich über die Notwendigkeit einer Reform des Islam äusserten, sahen sie über die Alltagssorgen der Immigranten hinweg; denn ihr erstes Anliegen war es, ihre eigene Position gegenüber der europäischen Kultur zu finden und zu festigen.

Grund dafür ist die Tatsache, dass viele der nach Europa emigrierten Akademiker und Intellektuellen aus dem Nahen und Mittleren Osten stammen. Auf verschiedenste Weise sind sie zunächst allesamt von den Debatten geprägt, welche in ihren jeweiligen Herkunftsländern ausgefochten werden: über das Versagen der nationalistischen Idee, die Situation der Palästinenser, die Militärherrschaft.

Mit der Zeit aber kommen sie im Exil zu einer einheitlicheren Sicht der arabischen Welt: So von ferne gesehen, erscheint diese weniger zerrissen und fragmentiert, als es tatsächlich der Fall ist. Im Gastland wiederum fühlen sie sich verpflichtet, die Welt in Schutz zu nehmen, von der sie sich abgesetzt haben, die sie aber - in einem für die Exilsituation fast klassischen Sublimationsprozess - nunmehr zum schönen Ideal einer weitgehend intakten Lebens- und Glaubenswelt emporstilisieren.

So finden sich am Ende der bekennende arabische Nationalist aus Damaskus und der kabylische Intellektuelle vereint in ihrer Hommage ans arabisch-islamische Erbe, das um jeden Preis vor fremden und feindlichen Einflüssen geschützt werden muss.

Intellektuelle werden zu Verteidigern des Islam

Damit bildete sich unter den in Europa geborenen wie auch den neu zugewanderten muslimischen Intellektuellen eine militante Attitüde heraus, welche die Verteidigung des Islam zu einem politischen Anliegen machte. Unter dem Vorwand, gegen den Rassismus anzutreten, werfen sich bekannte Intellektuelle - die sich bisher eher von Religion und Glauben distanziert hatten - zu Fürsprechern des Islam auf.

Dieser Tendenz verdankt man etwa in Frankreich eine ganze Menge von Neupublikationen, erschienen in durchaus respektablen (und agnostischen) Verlagshäusern, die den Islam einmal "meiner Tochter" und einmal der Menschheit ganz im Allgemeinen "erklären" wollen.

Mit pädagogischem Impetus und unter dem Anschein der Objektivität wird darin der Islam auf seine orthodoxeste und rückständigste Form eingedampft; von einem seiner wichtigsten Charakterzüge, nämlich der Vielfalt der Denkströmungen und Gruppierungen innerhalb der Religion, kommt nicht einmal eine Ahnung auf.

Orientalistik - ein verlorener Schatz

Paradoxerweise findet diese Entwicklung gerade in den grossen Mutterländern der klassischen Orientalistik - Frankreich, England und Deutschland - statt. Gewiss, diese Wissenschaft ist von arabischen und muslimischen Intellektuellen angegriffen und hart kritisiert worden, was zu seltsamen Regungen eines schlechten Gewissens bei den Europäern geführt hat.

Der Untergang dieses blühenden europäischen Wissenschaftszweiges, von dem letztlich auch Amerika profitiert hat, führte dazu, dass nunmehr die Politikwissenschaften zum Terrain für die akademische Auseinandersetzung mit dem Islam geworden sind. Seit den 1980er Jahren werden Forschungsprojekte, welche die islamische Welt oder den Islam in Europa betreffen, primär in die Hände von Politologen gelegt, die dann zu erklären, Ratschläge zu erteilen und Prognosen abzugeben haben - auch zur "prime time" auf dem Fernsehschirm.

Mit dem Rückgang anderer Zweige der Islamwissenschaften - Theologie, Rechtswissenschaft, Philosophie - verschwindet aber ein ganzer Schatz von Kenntnissen über die Entwicklungen und Hypothesen islamischen Denkens, und damit das geistige Reservoir für eine fruchtbare Auseinandersetzung mit muslimischen Intellektuellen.

Diese Entwicklung hat sich auf das gesamte soziokulturelle Umfeld niedergeschlagen - insbesondere in Frankreich, wo die Intellektuellen nach wie vor ihren Öffentlichkeitsanspruch behaupten. In der heutigen Islamdebatte fehlen schmerzlich die Stimmen von Grossmeistern der Orientalistik wie Jacques Berque und Maxime Rodinson; und es scheint, dass die Frage nach dem Umgang mit dem Islam generell einen tiefgreifenden Wandel durchlaufen hat.

Dialog hat noch nicht begonnen

Bis zum 11. September 2001 delegierten die führenden Zeitschriften und Organe der Intelligenzia das Problem des radikalen Islamismus dankbar an die Zunft der Soziologen und Politologen, von denen man Erklärungen und möglichst auch die eine und andere beruhigende Geste erwartete.

Erst seit jenem Zeitpunkt ruft die Tatsache, dass der Islam in Europa definitiv Fuss gefasst hat, auch die grossen Geister auf den Plan - doch reduziert sich der Umgang mit dem Thema oft auf sozusagen technische Aspekte.

Der so dringend nötige Dialog mit muslimischen Intellektuellen, die ihrerseits zwischen der Verteidigung eines idealisierten Islam und dem offensiven Pragmatismus der jungen muslimischen Militanten lavieren müssen: dieser Dialog hat noch nicht begonnen.

François Zabbal, Schriftsteller und Philosoph, lehrte zunächst an der Universität in Beirut und wurde 1984 ins Exil gezwungen. Seit 1996 ist er Chefredaktor der vom Pariser Institut du Monde Arabe herausgegebenen Kulturzeitschrift "Qantara".

Aus dem Französischen von Angela Schader

© Neue Zürcher Zeitung, 22. Januar 2005