Wenn Pakistan zerfällt . . .

In seinem Essay analysiert der Politikwissenschaftler Herfried Münkler die anhaltende politische Krise in Pakistan: Was passiert, wenn das schon jetzt von der Zentralgewalt nur noch teilweise kontrollierte Land auseinander bricht?

Pakistanischer Präsident Pervez Musharraf, Foto: AP/ Pakistan Press
Hat das Amt des Oberbefehlshabers der Streitkräfte aufgegeben: Präsident Pervez Musharraf.

​​Dass Pakistan in einen Bürgerkrieg hineinschlittern könnte, an dessen Ende islamistische Gruppierungen die Macht übernehmen, ist alles andere als ausgeschlossen.

Die Terroranschläge der letzten Wochen, die Demonstrationen gegen General Musharraf und deren gewaltsame Auflösung durch Polizei und Militär lassen befürchten, dass der derzeit wichtigste Verbündete der USA in der Region vor einem Umsturz steht, womit dann die Nuklearwaffen des Landes mitsamt den Trägersystemen in die Hände von Islamisten geraten können.

Die Besorgnis über die jüngsten Entwicklungen in Pakistan ist in Washington jedenfalls groß, während man in Europa die Gefahr noch nicht so recht wahrgenommen zu haben scheint – womöglich auch deswegen, weil man auf den Gang der Dinge politisch ohnehin keinen Einfluss hat.

Drohender Bürgerkrieg

Es ist bemerkenswert, dass die amerikanische Administration in dieser Lage nicht auf eine bedingungslose Unterstützung des derzeitigen Staatspräsidenten General Musharraf setzt, sondern ihn dazu drängt, das Amt des Oberbefehlshabers der Streitkräfte aufzugeben, wenn er das des Staatspräsidenten weiter ausüben will.

Dahinter dürfte ein doppeltes Kalkül stehen: Ein politisches Scheitern Musharrafs darf nicht zur Paralyse der Streitkräfte führen, die gerade dann als stabilisierender Faktor und intakte Institution gebraucht würden; und zugleich geht es darum, die eher dem Westen zugewandten Kräfte – und dazu gehören neben dem Offizierskorps der Armee die Ober- und größere Teile der Mittelschicht des Landes – politisch zu einen, um den bedrohlichen Ansturm der Islamisten abzuwehren.

Das amerikanische Agieren legt den Schluss nahe, dass man General Musharraf in Washington nicht mehr unbedingt zutraut, diese Integration der prowestlichen und der zumindest nichtislamistischen politischen Kräfte in Pakistan hinzubekommen.

Man möchte sich jedenfalls Benazir Bhutto als politische Option offen halten. Aber was, wenn weder Musharraf noch Bhutto diese Aufgabe zu meistern vermögen und Pakistan in einem Bürgerkrieg versinkt, an dessen Ende, so wie vor bald drei Jahrzehnten in Iran, die Islamisten die Macht übernehmen?

Immerhin, man scheint in Washington aus den Fehlern der damaligen Iranpolitik gelernt zu haben, als man bis zum Schluss am Schah festhielt und bei dessen Sturz keine weiteren Optionen zur Verfügung hatte.

Eine islamistische Bombe

Man kann jedoch fragen, ob in Pakistan nicht bereits der Punkt längst überschritten ist, jenseits dessen eine islamistische Machtübernahme nicht mehr zu verhindern ist. Das aber hieße, dass aus der pakistanischen eine islamistische Bombe würde.

Zunächst ist festzuhalten, dass die pakistanischen Atomwaffen von Anfang an in ein System gegenseitiger Abschreckung mit Indien eingebunden waren und daran auch eine Machtübernahme durch die Islamisten nichts ändern würde. Die pakistanischen Atomwaffen unterscheiden sich darin von einer potenziellen Atombewaffnung Irans, dass sie durch die indischen Atomwaffen "gebunden" sind.

Seit der Staatsgründung ist Pakistan auf den Kontrahenten Indien fixiert, gegen den es mehrere Kriege geführt und verloren hat. Der fieberhafte Aufbau der pakistanischen Nuklearbewaffnung in den 1990er Jahren erfolgte mit Blick auf Indien, um die strategische Balance wiederherzustellen, nachdem Indien in den Klub der Atommächte aufgestiegen war.

Indien dagegen hatte seine Atomwaffen nicht mit Blick auf Pakistan, dem es im konventionellen Bereich ohnehin mehrfach überlegen ist, sondern mit Blick auf China entwickelt. Nur als Atommacht glaubte man in Delhi, dem chinesischen Hegemonieanspruch in Ostasien gewachsen zu sein. Pakistan reagierte mit seinen Atomwaffen auf eine Konstellation, in die es aufgrund seiner geografischen Lage verwickelt ist.

Die Indien-Fixierung der pakistanischen Politik zeigte sich schließlich auch in der Afghanistan-Politik des Landes, als man alles daransetzte, das moskaufreundliche Regime in Kabul zu stürzen, weil dieses unter den damaligen politischen Konstellationen ein potenzieller Verbündeter Indiens war.

Strategische Tiefe gegen Indien

So investierte man in den islamischen Widerstand und schließlich in das Regime der Taliban, um mit einem abhängigen Verbündeten in Kabul an strategischer Tiefe gegen Indien zu gewinnen. Diese geostrategischen Konstellationen würden bei einer islamistischen Machtergreifung in Islamabad bestehen bleiben, mit der Folge einer strategischen Absorption der pakistanischen Atomraketen.

Aber kann man sich darauf verlassen? Oder würden sich die USA doch zu präemptiven Schlägen gegen die pakistanischen Nuklearwaffen veranlasst sehen?

Vermutlich würde Indien einer islamistischen Machtübernahme in Pakistan nicht teilnahmslos zusehen, zumal seine eigenen muslimischen Bevölkerungsteile auf die politische Zuspitzung im Nachbarland reagieren würden. Jeder Einflussgewinn der Islamisten in Pakistan ist mit einer Zuspitzung der religiösen Konflikte in Indien verbunden.

Es ist auch nicht auszuschließen, dass Indien die innere Schwäche Pakistans dazu nutzen könnte, einige seit langem bestehende Probleme mit Pakistan in seinem Sinne zu lösen. Das würde mit großer Sicherheit das gesamte militärische Potenzial Pakistans absorbieren; und solange das der Fall ist, gibt es für den Westen keinen Grund, die mit einer iranischen Nuklearbewaffnung verbundenen Bedrohungsszenarien auf Pakistan zu übertragen.

Der schlimmste Fall

Aber was, wenn Pakistan als Staat und territoriale Einheit zerfällt? Wenn das schon jetzt von der Zentralgewalt nur noch teilweise kontrollierte Land auseinander bricht und sich entterritorialisierte Netzwerke von Terroristen, womöglich aber auch solche der internationalen Kriminalität in den pakistanischen Nuklearanlagen spaltbares Material besorgen?

Das ist dann in der Tat der sicherheitspolitische "worst case". Damit würde nämlich nicht nur das Bedrohungs-, sondern auch das Erpressungspotenzial dieser Organisationen dramatisch steigen. Dabei kommt es nicht mehr darauf an, ob sie islamistisch, antikapitalistisch oder kriminell ausgerichtet sind.

Entterritorialisierte Politikakteure im Besitz von Massenvernichtungswaffen sind eine sicherheitspolitische Katastrophe, weil sie nicht abzuschrecken sind. Abschreckung hat Territorialität zur Voraussetzung: Durch sie wird eine auf einem Territorium lebende Bevölkerung in die Ordnung wechselseitiger nuklearer Geiselnahme eingebunden.

Derlei ist uns aus den Zeiten des Ost-West-Konflikts noch vertraut. Es war dies eine unangenehme, aber keine verzweifelte Situation. Die eigentliche Bedrohung unserer Sicherheit ist also weniger eine islamistische Machtergreifung in Pakistan als der Zerfall des pakistanischen Staates.

Herfried Münkler

© Neue Zürcher Zeitung 2007

Herfried Münkler lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin Theorie der Politik. Letzte Buchpublikationen: "Imperien. Die Logik der Weltherrschaft - vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten" (Rowohlt 2005, Taschenbuchausgabe 2007); "Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie" (Velbrück Wissenschaft 2006)

Qantara.de

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