Willkürlicher Ermessensspielraum

Immer wieder werden türkische Intellektuelle angeklagt, weil sie vermeintliche Tabuthemen verletzt haben. Häufig heißt die Anklage "Beleidigung des Türkentums", Instrument der Anklage ist der berüchtigte Paragraph 301. Jürgen Gottschlich über Tabus, die längst keine mehr sind

Immer wieder werden türkische Intellektuelle angeklagt, weil sie vermeintliche Tabuthemen verletzt haben. Häufig heißt die Anklage "Beleidigung des Türkentums", Instrument der Anklage ist der berüchtigte Paragraph 301. Jürgen Gottschlich über Tabus, die längst keine mehr sind

Türkisches Militär vor Atatürk-Mausoleum in Ankara; Foto: AP
Türkisches Militär vor Atatürk-Mausoleum in Ankara. Das Militär und der Gründer der Nation werden in der Türkei weiterhin tabuisiert

​​Gibt es in der Türkei Tabuthemen, über die nicht gesprochen werden darf? So erstaunlich es sich zunächst anhören mag: Gesellschaftlich wirklich tabuisierte Themen, die generell totgeschwiegen werden, gibt es schon länger nicht mehr.

Die Zeiten, in denen man Kurden noch als "Bergtürken" bezeichnete, deren Sprache nichts weiter sei als ein türkischer Dialekt, in denen die Armenier lediglich als eine kleine christliche Minorität in Istanbul wahrgenommen wurden und das Militär grundsätzlich nicht kritisiert werden durfte, sind vorbei.

Wer heute die Istanbuler Buchläden durchstreift, findet dutzende Bücher zur Armenierfrage. Angefangen von individuellen Lebensschicksalen über historische Kontroversen bis hin zu geopolitischen Auseinandersetzungen.

Das Gleiche gilt für die Kurdenfrage, und auch kritische Bücher über die Militärputsche und die Rolle des Militärs werden generell nicht mehr unter dem Ladentisch gehandelt.

Selbst die Schicksale der so genannten Pontusgriechen - den Griechen, die bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts an der türkischen Schwarzmeerküste gelebt hatten, bevor sie verfolgt und von dort vertrieben wurden - sind mittlerweile literarisch und filmisch präsent, und das auch gegen den Druck der Regierung, die fürchtet, sich dadurch neue Debatten mit Griechenland einzuhandeln.

Rechtsräume unterliegen Willkür

Es wird also über alles geredet, selbst Aussagen wie die des Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk, der offen von der Ermordung von einer Million Armenier sprach, sind nicht mehr nur Angelegenheit eines einzelnen Mannes. Trotzdem ist die Diskussion nicht wirklich frei.

Vor allem Verleger klagen immer wieder zu Recht darüber, dass es oft unkalkulierbar sei, ob ein Buch und sein Autor kriminalisiert werden oder nicht.

Aufgrund der Rechtslage haben Staatsanwaltschaften und Gerichte nach wie vor einen an Willkür grenzenden Ermessungsspielraum, wenn es darum geht, eine Meinungsäußerung als Beleidigung des Türkentums, Beleidigung der Armee oder des Staates, als Aufruf zum Separatismus oder als Gefahr für den Laizismus einzustufen oder nicht.

Orhan Pamuk verlässt den Gerichtshof in Istanbul; Foto: AP
Im Dezember 2005 stand Orhan Pamuk aufgrund des Vorwurfs der "Beleidigung des Türkentums" vor Gericht

​​Es gibt kein Gesetz, das explizit verbietet, den Massenmord an den Armeniern 1915 als Völkermord zu bezeichnen. Dennoch haben es nationalistische Gruppen im Verein mit gleich gesinnten Staatsanwälten in den letzten Jahren etliche Male geschafft, Schriftsteller wie Orhan Pamuk oder Elif Shafak, besonders aber international weniger bekannte Journalisten vor Gericht zu bringen, weil sie behaupteten, die Rede vom Völkermord entspräche laut Paragraph 301 dem Straftatbestand der "Beleidigung des Türkentums".

Paragraph 301 als Vorwand

Letztlich ist jedoch aufgrund dieses Paragraphen kaum ein Angeklagter verurteilt worden. Vielmehr ist dies der Versuch, mittels des Strafrechts eine Debatte zu verhindern, die sich nicht mehr verhindern lässt.

Auch in der Debatte um die richtige Strategie im Umgang mit der kurdischen Minderheit wird das Strafrecht immer wieder als politische Waffe benutzt, um unliebsame Intellektuelle oder Vertreter der kurdischen Minderheit unter Druck zu setzen.

Gegen den Bürgermeister von Diyarbakir laufen einige Verfahren wegen vermeintlicher Unterstützung einer Terrororganisation – der PKK –, die aber hauptsächlich deshalb geführt werden, um einen populären Politiker aus dem Amt zu jagen.

Weniger einflussreiche kurdische Intellektuelle können durchaus über Autonomie und Verfassungsänderungen diskutieren, der Staatsanwalt kommt meistens nur dann, wenn es gilt, politisch relevante Leute kaltzustellen.

Letztlich verschieben sich aber fast täglich die Koordinaten hin zu selbstbewussteren öffentlichen Auftritten von Oppositionspolitikern und kritischen Aktivisten. Der Grund liegt darin, dass der Staat, seit die islamische AKP die Regierung stellt, nicht mehr als monolithischer Block auftritt, sondern der Riss mitten durch den Apparat verläuft.

Lösungen durch öffentliche Auseinandersetzungen

Vor allem in der Auseinandersetzung um den laizistischen Staat muss der Streit nun mit Argumenten geführt werden, weil man einen Ministerpräsidenten nicht einfach verhaften kann. Seitdem gebärdet sich ein Teil der islamistischen Presse so aggressiv, dass plötzlich Klagen aus dem Ausland kommen, die das Einschreiten der Regierung fordern.

Der öffentliche Schlagabtausch bleibt jedoch nicht auf das Thema Laizismus versus Islam beschränkt. Erst jüngst kam völlig überraschend der rechtsnationale Vorsitzende der Partei des Rechten Weges (DYP), Mehmet Agar, mit dem Vorschlag in die Schlagzeilen, die türkische Politik müsse sich darum bemühen, die PKK von den Bergen zu holen und in den politischen Prozess zu integrieren.

Hätte dies ein kurdischer Politiker gesagt, wäre er sicher dafür angeklagt worden. Agar ist als ehemaliger Innenminister allerdings immun gegen den Vorwurf, er sympathisiere mit einer Terrorgruppe.

Doch Agar hat deutlich gemacht, dass Lösungen in heiklen gesellschaftlichen Fragen eben nicht mehr mit dem reinen Beharren auf dem Status Quo oder dem Einsatz des Militärs erreicht werden können, sondern nur durch öffentliche Auseinandersetzung.

Gegen diese Erkenntnis werden noch viele Staatsanwälte anrennen, aber die Entwicklung der letzten zehn Jahre hat gezeigt, dass sie letztlich auf verlorenem Posten stehen.

Jürgen Gottschlich

© Qantara.de 2007

Qantara.de

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