Opfer von Korruption und Feindbildern

Die Flutopfer in Pakistan bleiben allein - der Westen hilft nur zögerlich, weil seit dem 11. September die Islamophobie um sich greift. Die pakistanische Regierung ist gelähmt, die Elite des Landes korrupt, kritisiert der Autor Tariq Ali in seinem Kommentar.

Pakistanische Flutopfer in Zentral-Pakistan; Foto: AP
Schreckliche Katastrophe: Fast zweitausend Menschen sind umgekommen, fast 20 Millionen sind obdachlos und die internationale Hilfe erreicht nur ein Drittel der Opfer.

​​ Im August herrscht in Pakistan der Monsun; dieses Jahr ist er zur Katastrophe geworden. Die Flut hat das Land heimgesucht, schwemmt die Häuser und ihre Bewohner hinweg. Fast zweitausend Menschen sind umgekommen, fast 20 Millionen sind obdachlos; die internationale Hilfe erreicht nur ein Drittel der Opfer. Pakistan leidet unter der Armut und unter dem Krieg in Afghanistan - das alleine wäre schlimm genug. Jetzt hat das Land es mit der furchtbarsten Naturkatastrophe seit vielen Jahrzehnten zu tun. Jede Regierung hätte es derzeit schwer. Die pakistanische ist aber nachgerade gelähmt.

In den vergangenen sechzig Jahren ist es der pakistanischen Elite nicht gelungen, eine funktionierende soziale Infrastruktur für ihr Volk einzurichten.

Das ist ein tief sitzendes strukturelles Problem, unter dem eine große Mehrheit der Bevölkerung zu leiden hat. Heutzutage folgen die Herrschenden blindlings dem neoliberalen Diktat des Weltwährungsfonds - Pakistan will ein guter Schuldner bleiben. In guten Zeiten sind die Herrschenden zu wenig gut. Jetzt aber, da Pakistan diese Katastrophe erlebt, sind sie zu nichts zu gebrauchen.

Hilfe für Terroristen?

Auch die Reaktion des Westens war bisher alles andere als hilfreich. US-freundliche Journalisten haben Islamabad in Panik gestürzt: Wenn Pakistan nicht geholfen werde, würden Terroristen die Herrschaft übernehmen. Das ist großer Unsinn. Die pakistanische Armee hat die Organisation der Hilfe für die Opfer der Flut fest in ihren Händen. Religiöse Gruppierungen und andere sammeln Spenden für die Obdachlosen. Das ist normal.

Flutopfer stehen auf ihrem von Wassermassen umschlossenen Haus in Taunsa in der Nähe von Multan; Foto: AP
Tariq Ali sieht den Grund für die geringe Spendenbereitschaft des Westens in einer nach dem 11. September 2001 aufkommenden Islamophobie in Europa und Teilen Nordamerikas.

​​ Viele Bürger Pakistans fragen sich, warum der Westen so inadäquat reagiert. Manche meinen, dass Pakistan als ein Land gesehen werde, in dem sich Terroristen einnisten. Das führe dazu, dass Nordamerika und Europa lieber keine Hilfsgelder geben wollten, dass die Spendenbereitschaft in den reichen Ländern zu gering bleibe. Das Problem ist damit nicht richtig beschrieben, außerdem geht es nicht nur um Pakistan.

Der wahre Grund dafür, dass die Hilfe für Pakistan so zögernd anläuft, ist vielmehr der: Seit dem 11. September 2001 sind Europa und Teile Nordamerikas von flagranter Islamophobie erfasst.

In einer neuen Umfrage wurde die Frage gestellt, was der erste Gedanke sei, der den Leuten in den Sinn komme, wenn sie das Wort "Islam" hören: Mehr als die Hälfte der Angesprochenen antwortete "Terrorismus". Die Umfrage ist zwar in Großbritannien angestellt worden, doch ist bekannt, dass Briten, Franzosen, Deutsche, Holländer und Dänen ähnlich denken. Der Blick auf den Islam als das absolut "Andere" hat natürlich mit den Kriegen in Afghanistan und dem Irak zu tun. Die Haltung ist aber so falsch, wie der Antisemitismus es war, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts weithin florierte.

Der reichste Bürger Pakistans

Eine Million tote Iraker seit dem Einmarsch 2003 - na und? Täglich tote Zivilisten in Afghanistan - sind sie nicht selbst schuld am ihrem Schicksal? Pakistaner von Wassermassen umschlossen - der Rest der Welt zeigt überwiegend Desinteresse. Ja, dieses latente Vorurteil gegenüber islamisch geprägten Ländern ist ein Grund für die zögerliche Hilfe.

Pakistanischer Präsident Asif Ali Zardari; Foto: AP
"Tausende sterben, der Präsident macht Ferien": Anstatt sich vor Ort um die Koordinierung der Hilfe zu kümmern, machte sich Pakistans Präsident Asif Ali Zardari auf einen ausgedehnten Trip durch Europa auf.

​​Hinzu kommt ein zweiter, und der ist hausgemacht: Viele Pakistaner, mit denen ich in den vergangenen zwei Wochen gesprochen habe, wollen kein Geld geben, weil sie fürchten, dass ihre Spende doch nur in den Taschen der korrupten Herrscher landet.

Als das Wasser stieg, machte Präsident Asif Ali Zardari sich zu einer Europareise auf. Er besitzt ausgedehnte Besitzungen, die er inspizieren wollte. Sein Sohn sollte anlässlich einer Parteiveranstaltung von Zardaris Anhängern zu seinem Nachfolger und künftigen Präsidenten ausgerufen werden - dies nicht etwa in Pakistan, sondern in der englischen Stadt Birmingham.

Die Einsetzung des "Kronprinzen" wurde verschoben: Das wäre selbst für loyale Parteianhänger zu viel gewesen. Zardari hielt stattdessen in Birmingham eine unmögliche Ansprache. Ein Mann aus Kaschmir erhob sich, nannte Zardari "korrupt" und einen "Dieb" und warf einen Schuh auf den Business-Präsidenten. Es war eine Reprise der Attacke, mit der ein irakischer Journalist 2008 weltweit bekannt wurde: Während einer Pressekonferenz hatte er damals seine Schuhe ausgezogen und Präsident George W. Bush damit beworfen. Der Vergleich sagte Zardari gar nicht zu. Er verließ die Halle im Zorn.

"Zardari tritt Bushs Schuh-Club bei"

Am folgenden Tag titelte Pakistans größte Zeitung: "Zardari tritt Bushs Schuh-Club bei." Einige Demonstranten in Pakistan hielten zusammen mit Zardaris Konterfei einen Schuh in die Höhe. Andere trugen Plakate: "Tausende sterben, der Präsident macht Ferien", "Amüsieren die Zardaris sich in England, während Pakistan untergeht?" Mehr Hilfsgelder sind damit allerdings auch nicht zusammengekommen.

Tariq Ali; Foto: dpa
Unzufrieden mit dem Krisenmanegement der pakistanischen Regierung: "In guten Zeiten sind die Herrschenden zu wenig gut. Jetzt aber, da Pakistan diese Katastrophe erlebt, sind sie zu nichts zu gebrauchen" sagt Tariq Ali.

​​ Während die Bilder der Überschwemmungen und von den verzweifelten Opfern der Flut auf Europas Fernsehsendern ausgestrahlt wurden, brachte ein Hubschrauber der französischen Luftwaffe Pakistans reichsten Bürger auf ein Schloss.

Es liegt inmitten einer üppigen Parklandschaft und heißt "Manoir de la Reine Blanche". Der Name des Schlosses soll auf das Anwesen zurückgehen, das Bianca von Navarra, die Witwe Philipps VI. im 14. Jahrhundert erbauen ließ. Heute gehört es dem pakistanischen Witwer Zardari, der den Tod seiner Frau Benazir Bhutto gut verschmerzt hat. Woher nahm er das Geld dafür?

In Pakistan gibt es kaum jemanden, der das nicht weiß: Es sind die Gefälligkeitszahlungen großer Firmen, die im Land investieren.

Zu Haus hat die Regierung die Independent Media Corporation, den größten Medienkonzern des Landes ermahnt, der Zwischenfall mit dem Schuh solle nicht in seinem Sender Geo gezeigt werden. Der Konzern hat sich geweigert. Daraufhin ließen Zardaris Leute zwei Sender in Karatschi und Teilen der Provinz Sindh abschalten; zum Glück haben sie auf YouTube keinen Einfluss.

Hunderte als Jiyalas bekannte hirnlose Gefolgsleute Zardaris versammelten sich vor der Zentrale des Senders Geo in Karatschi und bewarfen das Gebäude mit Steinen und Schuhen - weil der Sender die Schuhattacke gezeigt hat. Überall in Karatschi wurden Zeitungen des Konzerns in Brand gesteckt. Die Polizei glänzte durch Abwesenheit. Geo hat daraufhin alte TV-Clips gesendet: Sie zeigen Benazir Bhutto, die eine Rede für die Pressefreiheit hält. Und das Wasser in Pakistan steigt.

Tariq Ali

© Süddeutsche Zeitung 2010

Übersetzung aus dem Englischen von Franziska Augstein

Der Autor, Filmemacher und Historiker Tariq Ali wurde in Lahore geboren und lebt in London. Er gilt als Grenzgänger zwischen islamischer und westlicher Welt.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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