Aufzeichnungen aus einem Totenhaus

Der albanische Schriftsteller Ismail Kadaré gilt bereits seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. Seine Sujets findet der 71-Jährige Romancier zumeist in der bewegten Geschichte seines Volkes. So auch in seinem Werk "Spiritus". Ariana Mirza hat den Roman gelesen.

Ismail Kadaré; Foto: dpa
Kadaré wurde 2005 mit dem Internationalen Booker Prize geehrt und lebt heute in Tirana und Paris.

​​Schon 1963 gelangte Ismail Kadaré mit dem historischen Roman der "General der toten Armee" zu Weltruhm. Seither ist der Albaner immer wieder als Kandidat für den Literaturnobelpreis im Gespräch. Doch seine Person ist nicht unumstritten. Vorgeworfen wird Kadaré vor allem sein spätes Exil. Er verließ das totalitäre Albanien erst zu Beginn der 90er Jahre und litt bis dahin kaum unter Repressalien.

Unbestritten ist jedoch die literarische Qualität des Schriftstellers, der heute abwechselnd in Tirana und Paris lebt. Denn Ismail Kadaré ist sowohl kühler Chronist als auch wortgewaltiger, epischer Erzähler, der seine Leser mit symbolischer Dichte und phantastischen Wendungen in Bann schlägt.

In "Spiritus" widmet sich Kadaré einem besonders perfiden Kapitel der Gewaltherrschaft unter Enver Hodscha: dem perfekten Überwachungsstaat. Doch es ist nicht die Banalität des Bösen, die den Literaten interessiert. Er entwirft stattdessen ein phantastisches Szenario, das die verbriefte Realität der Abhörexzesse in den Kontext der mythenreichen Geschichte des Landes setzt.

Suche nach dem "Kern der Legende"

In der Rahmenhandlung des Romans erkundet eine ausländische Forschergruppe Albaniens die jüngste Vergangenheit, um dort den Stoff zu finden, aus dem sich Legenden nähren. Fast scheint es, als habe Kadaré hier seinen eigenen literarischen Ansatz ironisch kommentiert. Denn die Suche nach dem "Kern der Legende" zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk.

​​In "Spiritus" werden die Forscher nach mühevoller Suche schließlich in dem Provinznest B. fündig. Dossiers und Augenzeugenberichte über eine rätselhafte Theateraufführung, umgebettete Tote und Verhörprotokolle sind die Puzzlestücke, die auf die richtige Spur führen.

Enthüllt wird die phantastische Geschichte Arian Voglis, eines getreuen Vasallen des Systems, der sich in den selbst gespannten Fallstricken verfängt. Vogli ist Chef der Staatssicherheit und möchte dem Diktator ein besonderes Geschenk machen: Erste Pläne und Informationen einer soeben aus China importierten Überwachungstechnik. Die "Prinzessinnen" oder auch "Ohren des Todes" genannten Wanzen sollen dem erblindenden Führer die Allmacht bewahren.

Die Abhörgeräte werden der Einfachheit halber in die Garderobe von Theatergästen genäht. Schließlich sind Kulturinteressierte per se subversive Elemente. Ins flächendeckende Visier gerät auch der Ingenieur Shpend Guraziu. Als Begleiter einer französischen Delegation will Guraziu versuchen, Kontakt ins Ausland aufzunehmen. Ein Bulldozer stoppt diese missliebigen Aktivitäten.

Geisterjagd in einem atheistisch geprägten Land

Doch dass die "Ohren des Todes" sogar Botschaften aus dem Jenseits übermitteln, setzt kurz darauf eine Entwicklung in Gang, die im sozialistischen Realismus nicht eingeplant ist. So muss sich Vogli inmitten eines atheistisch-bürokratischen Systems wahrhaft auf Geisterjagd begeben, um die eigene Haut zu retten.

Ismail Kadaré erschafft in "Spiritus" einen bunt bevölkerten Erzählkosmos, den er sprachlich ebenso virtuos gestaltet wie in der Komposition und Dramaturgie.

Neben erhellenden Einblicken in den "Volkskörper" liefert er auch Innenansichten des "Kopfes" und der "Arme" des Diktators und seiner Handlanger. Historische Fakten und literaturgeschichtliche Verweise, beispielsweise auf Lermontow und Tschechow, reihen sich in die Erzählstränge ebenso ein wie kurze linguistische Exkurse.

Die Leser begeben sich auf eine Reise in die Vergangenheit und Gegenwart eines Landes, das dem universellen Siegeszug der Aufklärung bis heute widerstanden zu haben scheint. So stehen in "Spiritus" auch keineswegs allgemein gültige Erkenntnisse über die Psychologie und Architektur von südosteuropäischen Diktaturen im Fokus. Stattdessen fördert der Schriftsteller Besonderheiten und Eigenarten zutage, die Albanien seit jeher von den Nachbarländern des Balkans unterscheiden.

Pragmatischer Umgang mit Mythen

Eine dieser typisch albanischen Eigenarten präsentiert der "Geschichtenerzähler" Kadaré als Schlusspointe: Während die angereisten Wissenschaftler noch versuchen, die ungeheuerlichen Fakten und Schlussfolgerungen ihrer Recherchen zu ordnen, haben die Albaner schon längst eine eigenwillige Legende um die Ereignisse gesponnen.

Und diese Schauergeschichte ist derart bizarr und geheimnisvoll, dass sie bestimmt den Tourismus ankurbeln wird. Ein Hoffnungsschimmer für das bitterarme Land.

In "Spiritus" erweist sich Kadaré einmal mehr als Schriftsteller, dessen Augenmerk auf die albanische Nation gerichtet ist. Bei aller Weltgewandtheit des Erzählers zeichnet ein separatistischer Grundtenor Kadarés gesamtes Werk aus, was vielleicht auch zu den Gründen zählt, warum dem Albaner der Nobelpreis bislang verwehrt blieb.In seinem albanischen Patriotismus hat sich Kadaré auch für ein unabhängiges Kosovo ausgesprochen. Eine Nobelpreis-Verleihung wäre also ein brisantes Politikum.

Interessant ist hierbei, dass Kadaré in seinen politischen Äußerungen die albanische Kultur als "westlich" verortet und die Einflüsse des Orients und der Osmanen gering einschätzt. Der Islam spielt daher in Kadarés literarischen Sujets nur selten eine Rolle – und dies obwohl circa 70 Prozent der albanischen Bevölkerung Muslime sind. Albanien ist in Europa das Land mit dem größten muslimischen Bevölkerungsanteil.

Doch auch in "Spiritus" verweigert sich Kadaré dieser Thematik. Einzig dass "Hodscha", der Nachname des Tyrannen, auch einen islamischen "Priester" bezeichnet, fließt als Information in einem Nebensatz ein.

Ariana Mirza

© Qantara.de 2007

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