"Es ist etwas mehr Nähe entstanden"

Der Jüdische Kulturverein Berlin hat jüngst eine Stellungnahme gegen "Islamophobie" in Deutschland veröffentlicht. Irene Runge, Vorsitzende des Vereins, erläutert im Gespräch mit Lennart Lehmann die Hintergründe.

Der Jüdische Kulturverein Berlin sieht Antisemitismus auch in der Debatte um den Islam in Deutschland. Eine Stellungnahme des Vereins gegen "Islamophobie" wurde nun von der Deutschen Muslim-Liga Bonn ausdrücklich begrüßt. Irene Runge ist promovierte Ökonomin, Publizistin und Vorsitzende des Jüdischen Kulturvereins Berlin. Mit ihr sprach Lennart Lehmann.

Irene Runge, Vorsitzende des Jüdischen Kulturvereins Berlin, plädiert für mehr Normalität zwischen den Religionsgemeinschaften. Foto: Igor Chalmiev
Irene Runge, Vorsitzende des Jüdischen Kulturvereins Berlin, plädiert für mehr Normalität zwischen den Religionsgemeinschaften

​​Wieso fühlte sich der Jüdische Kulturverein genötigt, eine Stellungnahme gegen "Islamophobie" zu verbreiten?

Irene Runge: Auslöser für unsere Stellungnahme gegen die "Islamophobie" war die Kopftuchdebatte. Die Art und Weise, wie diese Geschichte in den Medien und in Äußerungen verschiedener öffentlicher Vertreter diskutiert wurde, ist unsachlich, gefährlich und diskriminierend.

Wieso diskriminierend?

Runge: Es wird dabei auf Äußerlichkeiten abgehoben und eine Weltgefahr beschworen. Vom Individuum wird abstrahiert und eine Gemeinschaft postuliert, die eine kulturelle, wirtschaftliche und existentielle Gefahr für alle Nicht-Muslime darstellt. So, wie wir das ja auch mit dem Judentum erfahren haben.

Wie steht der jüdische Kulturverein zum Kopftuch?

Runge: Wir sind gegen ein Kopftuchverbot, da es eine ungleiche Behandlung darstellt. Wenn kein Kopftuch, dann auch keine Kippa, also die jüdisch-männliche Kopfbedeckung - und religiöse jüdische Frauen bedecken übrigens genauso den Kopf wie Muslimas. Das Kopftuchverbot ist der Versuch, durch Reglementieren Probleme herbeizureden und wieder aus der Welt zu schaffen, was nichts erklärt.

Was kann man also tun gegen "Islamophobie"?

Runge: Es ist wohl Augenwischerei, dass pädagogisches Aufklären Erkenntnis bringt. Man kann viel sagen und schreiben, verfestigte Ideologien kriegt man einfach nicht weg. Gerade auch die irrationalen Einstellungen gegen Fremdes werden uns wohl sehr lange begleiten. Zumindest, solange die Normalität des Nebeneinanders im Alltag nicht da ist. Man muss wohl immer wieder darauf hinweisen, dass der Islam sehr vielfältig ist, ohne zu verharmlosen, dass es in seinen Reihen auch extremistische Gruppen gibt. Aber wir kommen ja auch nicht sofort auf Inquisition und Hexenverbrennung, wenn wir vom Christentum sprechen.

Was verstehen Sie unter Normalität?

Runge: Manche Leute wundern sich, dass Juden genau so aussehen, wie sie selber. Diese Vorstellung scheint eher ihrem positiven oder negativen Zerrbild zu entsprechen. Das kommt zustande, wenn man keine lebendigen Juden kennt. Wenn Menschen auf individueller Ebene aufeinander zugehen, in einem Haus wohnen, was angesichts der jüdischen Bevölkerungszahlen in Europa eher schwer, mit Muslimen aber überall möglich ist, entspannt das den Alltag. Das müsste schon im Kindergarten anfangen. Wenn man dann etwas aus den Medien erfährt, stellt man sich plötzlich die Leute vor, die man kennt.

Die Deutsche Muslim-Liga Bonn hat sich erfreut über Ihre Stellungnahme geäußert. Rücken die diffamierten Minderheiten jetzt zusammen?

Runge: Es ist etwas mehr Nähe entstanden. Das fing bei uns am 12. September 2001 an. Wir hatten an diesem Tag ein lange geplantes Treffen mit einer türkischen Seniorengruppe. Angesichts der Situation waren beide Seiten hilflos und sehr offen. Schon damals empörten uns die unterschwelligen und hinterhältigen Diffamierungen gegen Muslime. Wir scheinen also nicht bereit zu akzeptieren, dass mit unseren Cousins und Cousinen so umgegangen wird, wie wir nicht wollen, dass mit uns umgegangen wird.

Das Interview führte Lennart Lehmann

© Qantara.de 2005

Qantara.de
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