Der doppelte Mohammed Mursi

Auch 100 Tage nach seinem Amtsantritt bleibt Ägyptens neuer Präsident ein Rätsel. Mal gibt er sich als ziviler Präsident. Dann wieder als kompromissloser Islamist. Bald muss er die Karten aufdecken. Aus Kairo informiert Markus Symank.

Traumergebnis für Mohammed Mursi: Pünktlich zu seinem 100. Arbeitstag als Präsident bescheinigt ihm ein unabhängiges Institut in Kairo überragende Zustimmungswerte. 79 Prozent der vom Ägyptischen Zentrum für Meinungsforschung befragten Personen gaben an, mit Mursis Leistung zufrieden zu sein.

Besonders gut schnitt der Präsident unter Männern und älteren Personen ab. Etwas weniger positiv fiel die Resonanz unter Frauen und Jugendlichen aus.

Umfragen sind in der arabischen Welt stets mit einer gehörigen Portion Vorsicht zu genießen. Doch das Ergebnis deckt sich mit der Einschätzung vieler Experten, und auch die Stimmung auf der Straße legt einen ähnlichen Schluss nahe. Als die Opposition kürzlich zu einer Anti-Mursi-Demo trommelte, blieb der Tahrirplatz in Kairo beinahe menschenleer.

Ägypten zurück auf der Weltbühne

Nicht zum ersten Mal belehrt Ägyptens erstes frei gewähltes Staatsoberhaupt seine Kritiker eines Besseren. Kaum einer hatte dem als zweiten Mann für die Partei der islamistischen Muslimbruderschaft ins Rennen gegangenen Bauernsohn eine Chance bei der Präsidentschaftswahl im Juni dieses Jahres eingeräumt. Doch der als "Ersatzreifen" verspottete Islamist setzte sich überraschend gegen erfahrenere Gegner von linksliberal bis rechtsreligiös durch.

Ägyptens Präsident Mohammed Mursi und Chinas Staats- und Parteichef Hu Jintao in Peking; Foto: Reuters
Außenpolitische Neuorientierung: Mehr als 10 Milliarden US-Dollar an Hilfsgeldern und Direktinvestitionen bekam er allein aus China zugesprochen, einem Land, das sein Vorgänger Hosni Mubarak stets ignoriert hatte.

​​Als Präsident punktet Mursi nun ausgerechnet in der Außenpolitik, einer Disziplin, in der ihm Gegner zuvor jegliche Kompetenz abgesprochen hatten. Erfolgreich hat der 61-Jährige auf Reisen rund um den Globus um Vertrauen geworben.

Mehr als 10 Milliarden US-Dollar an Hilfsgeldern und Direktinvestitionen bekam er allein aus China zugesprochen, einem Land, das sein Vorgänger Hosni Mubarak stets ignoriert hatte. Souverän vertrat Mursi sein Land bei der UN-Vollversammlung vor einer Woche. Im Syrienkonflikt setzte er überraschend neue Akzente. "Mursi hievt Ägypten zurück auf die Weltbühne", titelte die Zeitung Al Ahram Online kürzlich.

"Wir sind wieder wer"

Dass Mursi überhaupt eine eigenständige Außenpolitik betreibt, werten viele schon als Erfolg. Mubarak hingegen galt als Marionette Washingtons. Den jahrzehntelangen Ausverkauf der eigenen Interessen zugunsten der USA empfanden die Ägypter als beschämend. Bei der Revolution im vergangenen Jahr ging es neben Demokratie und freien Wahlen auch um Selbstbestimmung, um Stolz, um Ehre.

Mursi hat der größten arabischen Nation ihre verloren gegangene Würde wiedergeben, auch wenn das Land wirtschaftlich weiterhin am Tropf des Auslands hängt. "Wir sind wieder wer", heißt es am Nil.

Einen schwarzen Fleck weist die außenpolitische Bilanz Mursis allerdings auf. Nach dem Sturm auf die amerikanische Botschaft in Kairo, ausgelöst durch den umstrittenen Film "Unschuld der Muslime", hüllte sich er sich fast 24 Stunden lang in Schweigen.

Zu einer Entschuldigung konnte er sich erst auf Druck des US-Präsidenten Barack Obama hin durchringen. "Mursi bekundet Mühe, die Balance zwischen heimischem Druck und internationaler Erwartung zu finden", sagt Gamal Soltan, Professor für Politikwissenschaft an der Amerikanischen Universität in Kairo.

Mohammed Mursi während einer Rede bei den Vereinten Nationen in New York; Foto: dapd
Mohammed Mursi, der Mann der vielen Gesichter: Wird der Präsident als Vollstreckungsgehilfe der undurchsichtigen Muslimbrüder in die Geschichte eingehen? Oder als Staatsoberhaupt aller Ägypter?

​​Mit seiner zögerlichen Reaktion habe er den ägyptisch-amerikanischen Beziehungen "erheblichen Schaden" zugefügt. Eine mögliche Streichung der US-Hilfsgelder, wie sie derzeit im Kongress diskutiert wird, könnte die Folge sein.

4 von 64 Versprechen umgesetzt

Für Mursis derzeitige Beliebtheit macht Soltan nur begrenzt dessen politisches Vermögen verantwortlich. Viele chaosmüde Ägypter seien lediglich froh, dass mit der Wahl eines neuen Präsidenten ein Stück Normalität zurückgekehrt sei, so Soltan. Der tatsächliche Zuspruch zu Mursis Politik lasse sich erst in einigen Monaten ablesen. Dann nämlich, wenn sich der reiselustige Präsident vermehrt den Problemen im eigenen Land zuwenden muss.

Daheim hat dieser bislang kaum Impulse zu setzen gewusst. Der "Mursimeter", eine von Jugendlichen geführte Webseite zur Beurteilung der präsidialen Leistung, stellt dem Staatsoberhaupt schlechte Noten aus. Gerade einmal 4 von 64 Zielen, die sich der Präsident für seine ersten drei Monate im Amt gesetzt hatte, verwirklichte er auch. Noch immer nimmt die Kriminalität zu. Noch immer sind die Verkehrsprobleme nicht gelöst, wachsen die Müllberge. Große Themen wie Jugendarbeitslosigkeit oder Steuerreform hat Mursi noch nicht angefasst.

"Mursi schlägt keine Brücken"

Überhaupt hat sich der Präsident in Wirtschaftsfragen bisher vor dringend benötigen Reformen gedrückt. Wie Mubarak Regimes lebt auch Mursis Regierung auf Pump. Gemäß dem britischen Economist ist Ägypten mittlerweile das am dritthöchsten verschuldete Land der Welt. Ökonomen halten eine Abwertung der ägyptischen Währung für ebenso unausweichlich wie ein Streichen der Gas- und Brotsubventionen für die Armen. Ansonsten droht der Staatsbankrott.

Auf genau solch unpopuläre Entscheidungen lauern die liberalen und linken Parteien, um sich für kommende Wahlen in Stellung zu bringen. Die Islamisten haben es nach ihrem Erdrutschsieg beim ersten freien Urnengang des Landes versäumt, die Opposition an Bord zu holen. Das könnte sich rächen. "Mursis größter Fehler ist, dass er keine Brücken schlägt. Weder zu politischen Gegnern, noch zu den 48 Prozent der Ägypter, die ihn nicht gewählt haben", kritisiert Gamal Soltan.

Verwalter statt Visionär

Um der Polarisation der Gesellschaft entgegenzutreten, müsste sich Mursi von der Führung der Muslimbruderschaft emanzipieren. Es ist unklar, ob er dazu fähig und willens ist. Seine bisherigen Handlungen als Staatsoberhaupt lassen sich nicht eindeutig zuordnen.

Da ist einerseits der zivile Präsident, der einen Christ als Berater beruft, Alkoholverkauf zulässt und Terroristen auf dem Sinai bekämpft. Da ist andererseits aber auch der kompromisslose Islamist, der Frauen aus der Regierung ausschließt, der von einem religiösen Bildungssystem schwadroniert und gegen westliche Werte wettert.

Das Fehlen einer klaren Ziels, eines nationalen Projekts: Das war der schwerwiegendste Vorwurf, den sich Ex-Diktator Hosni Mubarak von seinem Volk anhören musste. Auch Mursi tritt bislang vor allem als Verwalter auf, und nur selten als Visionär. Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes lassen sich jedoch nicht unbegrenzt auf die lange Bank schieben.

Der doppelte Mohammed Mursi kann nicht ewig weiter existieren. Wird der Präsident als Vollstreckungsgehilfe der undurchsichtigen Muslimbrüder in die Geschichte eingehen? Oder als Staatsoberhaupt aller Ägypter? Bis 2016 hat Mursi Zeit, seinem Volk eine Antwort zu geben. Dann, so entschied die Verfassungsgebende Versammlung vorige Woche, wird wieder gewählt.

Markus Symank

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de