"Ich verteidige mein Recht, mein Recht zu verteidigen"

Nach ihrem spektakulären Auftritt auf Gilad Atzmons CD "Exile" zeigt die britisch-palästinensische Sängerin Reem Kelani jetzt mit ihrem ersten eigenen Album, dass ihre Musik ein wichtiger Kulturträger palästinensischer Musiktraditionen ist. Von Lewis Gropp

Nach ihrem Aufsehen erregenden Auftritt auf Gilad Atzmons CD "Exile" zeigt die britisch-palästinensische Sängerin Reem Kelani jetzt mit ihrem ersten eigenen Album, dass ihre Musik ein wichtiger Kulturträger palästinensischer Musiktraditionen ist. Von Lewis Gropp

Reem Kelani; Foto: Saeed Taji Farouky
Neben traditioneller Musik, von Reem Kelani arrangiert, stammt rund die Hälfte der Songs auf "Sprinting Gazelle" aus der Feder der Sängerin

​​Bei der Einschätzung des künstlerischen Wertes von Musik greift man in der Regel auf feststehende Kategorien zurück: Ausdruck, technische Fähigkeiten, Grad der Innovation, Authentizität, musikalisch-künstlerische Eigenständigkeit, Vermittlung eines bestimmten Lebensgefühls und so weiter. Wenn man jedoch Reem Kelanis erstes Album mit einem so eingeschränkten Blick in Augenschein nimmt, bleibt das Wesentliche zunächst verborgen. Auf "Sprinting Gazelle" geht es nicht ausschließlich um Musik als Kunst, sondern auch um die (Re-) Vitalisierung musikalischer Traditionen – also um die Bewahrung von Kultur. Und ist es nicht so: immer dann, wenn um die Tradierung von Kultur gerungen wird, geht es immer auch um die Bewahrung von Identität. "Ich verteidige mein Recht, mein Recht zu verteidigen." In diesem Sinn ist dieser Satz aus dem Werk des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwish dann auch der treffende Sinnspruch, der diesem Album vorangestellt ist. Musikalische Vielfalt im heiligen Land Wenn eine bestimmte (musikalische) Tradition beschworen wird, dann überbetont man in 90 Prozent der Fälle die Abgrenzung gegenüber anderen Traditionen – mit dem Ergebnis, dass die eigene tradierte Identität verflacht und als eindimensional konstruiert wird. ​​Diesen Fehler begeht Reem Kelani nicht, im Gegenteil: "Sprinting Gazelle" bindet die verschiedensten Facetten musikalischer Traditionen des historischen Palästina in dieses fast 75-minütige Aufnahme ein. Das beginnt mit dem ersten Track des Albums, "As Nazarene Women Crossed the Meadow", der mit einem monotonalen männlichen Chor eröffnet wird, wie er auch für die Liturgie der griechisch-orthodoxen Kirche üblich ist. Reem Kelani wurde zu der Idee für dieses Arrangement während eines Besuches von St. Gabriel in Nazareth inspiriert, den sie zu der griechisch-orthodoxen Kirche unternommen hatte, während einer ihrer dortigen Sommeraufenthalte in ihrer Kindheit. "Ich war elektrisiert, als ich diese Gesänge der Ostkirche hörte; ihre Ähnlichkeit mit der islamischen religiösen Musik ist äußerst bemerkenswert", schreibt die Sängerin in dem phantastischen Booklet, welches über aufschlussreiche "Liner Notes" verfügt und Herkunft und Zusammenstellung der Lieder erläutert. Neben traditioneller Musik, von Reem Kelani arrangiert, stammt rund die Hälfte der Songs aus der Feder der Sängerin. Und obwohl jeder Song einen ausgeprägten eigenen Charakter hat und sich die einzelnen Stücke stark voneinander abheben, ist das Album selbst wie aus einem Guss – ein Gesamtkunstwerk mit zahlreichen Facetten. Musik, die atmet Auf die schwebende Melodie des "Galilean Lullaby" – das durch das Piano und mit Besen gespielte Drums mit einem Hauch einer Jazz-Ballade (im orientalischen Gewand) daherkommt – folgt beispielsweise das dunkel pulsierende "Baker's Dozen": zum Einstieg der perkussive Beat (im kühnen 13/4-Takt), der hypnotische Basslauf in Moll, gefolgt von einer wehmütigen Geigenmelodie und der rhythmisch dagegen haltenden Figur der Bassklarinette. Die später einsetzenden klatschenden Hände evozieren die Vorstellung eines kultischen Rituals. Treffenderweise ist der Titel dieser Version des Songs Habl el-Ghiwa, also "Pull of Seduction" (Die Verlockungskraft der Verführung). Reem Kelanis erstaunliche Fähigkeiten als Performerin sind in zahlreichen Aufsätzen und Beiträgen hervorgehoben worden. Wer sie live gesehen hat weiß, dass die Intensität ihrer Stimme selbst Zuhörer aus den letzten Reihen berührt und in den Bann schlägt. Mit ihrem ersten Album hat Kelani jetzt gezeigt, dass sie auch als Produzentin und Arrangeurin ihre Ideen erfolgreich umsetzen kann – darüber hinaus hat sie mit "Sprinting Gazelle" zu 100 Prozent ihre künstlerische Unabhängigkeit behauptet. Kein Label-Manager hat ihr ins Konzept gepfuscht, kein PR-Mensch ihr eine kommerzielle Marketing-Strategie aufgeschwatzt. Tradition ohne Traditionalismus Das große Finale von "Sprinting Gazelle" wird von Il-Hamdillah (Giving Praise) beschlossen, einem traditionellen palästinensischen Lied, dessen Titel von einem zehnköpfigen Chor mantra-artig wiederholt wird; auch dies ein Stück von großer Suggestionskraft, das (wie es im Booklet steht) in dieser Form oft bei sufischen Zikr-Ritualen gesungen wird, bei denen die Derwische Ereignisse aus der Vergangenheit heraufbeschwören. Dieses Stück besticht – wie das gesamte Album – durch Klarheit und Transparenz, aber auch durch die emotionale Tiefe und Wärme, die von der Musik ausgeht. Der Gitarrist Andy Summers hat einmal gesagt, Musik müsse seinem Verständnis nach atmen. Genau das ist bei dem Album "Sprinting Gazelle" der Fall. Darüber hinaus rettet Reem Kelani Traditionen palästinensischer Musikkultur in die Gegenwart, ohne dabei einem musealen Traditionalismus zu verfallen. Im Gegenteil: Mit "Sprinting Gazelle" haucht sie mitunter jahrhunderte alten Texten und Melodien Leben ein und Vitalität. "Sie singt die Musik nicht nur", wie es Roger van Schaick treffend formuliert, "sondern sie lebt diese Musik, mit der Hingabe von Leib und Seele." Lewis Gropp © Qantara.de 2007 Reem Kelani: "Sprinting Gazelle - Palestinian Songs from the Motherland and the Diaspora", Label: Fuse Records

Qantara.de Reem Kelani Palästinensischer Blues Reem Kelani, palästinensisches Multitalent, singt traditionelle palästinensische Lieder, Jazz und Blues. Obgleich studierte Meeresküstenbiologin, wollte sie immer Musikerin werden. Ein Portrait von Martina Sabra Ensemble Sarband Musikalischer Brückenschlag zwischen den Kulturen Bei dem diesjährigen Internationalen Musikfestival in Istanbul stellten das multinationale Ensemble Sarband und die Gruppe Concerto Köln ihr gemeinsames Programm "Dream of the Orient" vor. Susanne Güsten saß im Publikum. Dossier: Musikwelten In der islamischen Welt und Europa hat sich längst eine eigenständige, moderne Musikszene entwickelt, die sich fernab von Bauchtanz- und Folkloreklischees bewegt. In diesem Dossier stellen wir einige ihrer wichtigsten Akteure, Stilrichtungen und Begegnungen vor. www Website von Reem Kelani