Demokratisierung von unten

In Indonesien bilden islamische NGOs das Rückgrat einer toleranten Zivilgesellschaft: Während islamische Organisationen, die etwa mit dem Koran erfolgreich für Frauenrechte kämpfen, erstarken, erleiden islamistische Parteien bei den Wahlen Verluste. Von Alfred Stepan und Jeremy Menchik

US-Präsident Obama beim Treffen mit indonesischem Präsidenten Yudhoyono; Foto: AP
Würdigung durch Obama: Seit dem Sturz Suhartos entwickelte sich Indonesien zu einer Vorzeige-Demokratie in Südostasien.

​​ Der Besuch von "Barry Obama", wie der gegenwärtige amerikanische Präsident und ehemalige Bewohner des Landes in Indonesien genannt wird, zielt vor allem darauf ab, die Leistungen des weltgrößten Landes mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit zu würdigen.

In den 12 Jahren seit dem Übergang zur Demokratie wurden in Indonesien regelmäßig Wahlen auf lokaler und nationaler Ebene abgehalten, ein funktionierender freier Markt entwickelt und die Kultur der Toleranz gegenüber den christlichen, hinduistischen, buddhistischen und chinesischen Minderheiten des Landes gestärkt.

Von den zehn Mitgliedern der ASEAN (Verband Südostasiatischer Nationen) verfügt nur Indonesien über die von der Forschungsrintichtung Freedom House vergebene Bewertung "frei". Die größtenteils katholischen Philippinen, das buddhistische Thailand und das konfuzianische Singapur liegen hinter Indonesien, wenn es um grundlegende demokratischen Freiheiten ihrer Bürger geht.

Die politischen Entscheidungsträger Amerikas betrachten Indonesien deshalb als Modell für die restliche muslimische Welt. Aber welche Lehren können aus der indonesischen Demokratie gezogen werden?

Rückgrat einer toleranten Gesellschaft

Die wichtigste Lehre ist, dass islamische Organisationen das Rückgrat einer toleranten Zivilgesellschaft bilden können. Muhammadiyah und Nahdlatul Ulama (NU) sind islamische Masseninstitutionen mit mehr als 30 beziehungsweise 40 Millionen Mitgliedern.

Genderkonferenz der islamischen Frauenorganisation Fatayat; Foto: Fatayat
Genderkonferenz der islamischen Frauenorganisation Fatayat: Indonesische Frauen zeigen, wie die Scharia als Instrument zur Bekämpfung frauenfeindlicher Politik eingesetzt werden kann.

​​ Sie betreiben über 10.000 Schulen und hunderte Krankenhäuser, führen Jugendorganisationen und unterstützen Fraueninitiativen. Beide Organisationen verfügen über Verbindungen zu politischen Parteien, von denen sich die meisten für Demokratie und gegen einen islamischen Staat aussprechen.

Der ehemalige Vorsitzende der Muhammadiyah, Syafi'i Ma'arif, brachte pluralistische, im Koran begründete Argumente gegen den blinden Gehorsam gegenüber der klassischen islamischen Rechtslehre vor.

Der frühere Vorsitzende der NU, Abdurrahman Wahid, engagierte sich jahrzehntelang für religiösen Pluralismus und spielte eine entscheidende Rolle bei der Mobilisierung der demokratischen Opposition gegen den autoritären Präsidenten Suharto.

Ein dritter islamischer Intellektueller, Nurcholish Madjid, forderte in den 1970er Jahren die "Desakralisierung" der Politik, trat in den 1990er Jahren für eine echte Mehrparteiendemokratie ein und drängte Suharto im Jahr 1998 persönlich zum Rücktritt.

Blockade der Frauenrechtspolitik durch USA

Überdies zeigt Indonesien, wie der Islam Unterstützung hinsichtlich der Frauenrechte gewähren kann. Die erfolgreichsten Aktivisten-Organisationen in Jakarta sind diejenigen, die von den Fraueninitiativen innerhalb der Muhammadiyah und NU unterstützt werden: Muslimat, Fatayat und Aisyiyah.

Indonesierinnen demonstrieren gegen Gewalt gegen Frauen; Foto: AP
Paradoxerweise blockierten die USA unter George W. Bush indonesische Publikationen, die für Safer Sex und Familienplanung warben.

​​ Die ehemalige Chefin von Fatayat, Maria Ulfah Anshor, argumentierte in höchst anspruchsvoller Form und auf Grundlage der Fiqh für den Zugang der Frauen zu Reproduktionsrechten. Und aufgrund einer sich über 40 Jahre erstreckenden Partnerschaft zwischen dem Staat und islamischen Gelehrten verfügt Indonesien über eines der erfolgreichsten Familienplanungsprogramme aller Entwicklungsländer.

Paradoxerweise haben die USA ebenso viel zur Blockade der indonesischen Frauenrechtsaktivistinnen wie zu deren Unterstützung beigetragen.

Der frühere US-Präsident George W. Bush gab Einschränkungen in der Finanzierung von Gesundheitsprogrammen vor, die den Einsatz von Kondomen und anderen Formen der Empfängnisverhütung vorsahen. Dies hatte zur Folge, dass islamische Organisationen, die finanzielle Mittel von der US-Agentur für internationale Entwicklung erhielten, keine Materialien mehr publizieren durften, in denen Safer Sex und Familienplanung propagiert wurden.

Scharia als Instrument für Frauenrechte

Dies war in vielen Fällen höchst kontraproduktiv. In einem besonders absurden Fall musste eine Gruppe muslimischer Feministinnen ein von ihnen verfasstes Buch zur Förderung der Frauenrechte auf Grundlage der Koranexegese heimlich publizieren, weil darin Argumente für die Reproduktionsrechte von Frauen enthalten waren und ein kleiner Prozentsatz der finanziellen Mittel für die Gruppe von einer Stiftung kam, die Geld von USAID ("Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung") erhalten hatte.

Logo der Nahdlatul Ulama; Foto:
Mit 30 Millionen Mitgliedern gehört die islamische NGO Nahdlatul Ulama zu den großen islamischen Masseninstitutionen in Indonesien und der Welt.

​​ Auch die Tatsache, dass islamische Organisationen zum Wohle der Frauen arbeiten, könnte teilweise den politischen Erfolg indonesischer Frauen erklären. Das Parlament besteht zu 18 Prozent aus weiblichen Abgeordneten (ein geringfügig höherer Prozentsatz als im US-Kongress) und mit Megawati Sukarnoputri übernahm eine Frau auch das Präsidentenamt.

Führende Organisationen wie Umar, Fatayat und Muslimat bieten ein Korrektiv zur weit verbreiteten Ansicht, dass die Scharia Frauen zwangsläufig behindert.

Vielmehr haben die Frauen Indonesiens gezeigt, wie die Scharia als Instrument zur Bekämpfung frauenfeindlicher Politik eingesetzt werden kann. So bezeichnet sich beispielsweise der Chef der Abteilung für islamische Angelegenheiten im Religionsministerium, Nasaruddin Umar, selbst als islamischen Feministen, der auch mit geschliffener Kritik an geschlechtsspezifischen Diskriminierungen in der Koranexegese aufgewartet hat.

Politische Verluste für Islamisten

Die Religion durchdringt in Indonesien fast jeden Aspekt des Lebens, auch die Politik. Aber politische Parteien, die sich für die Einführung der Scharia stark machen, haben bei Wahlen zwischen 1955 und 2009 an Terrain verloren.

Demonstration der Hizb ut-Tahrir in Indonesien; Foto: AP
Anhänger der islamistischen Hizb ut-Tahrir demonstrieren für die Einführung der Scharia: Politische Parteien mit islamistischem Programm haben bei den Wahlen zwischen 1955 und 2009 an Terrain verloren.

​​ Parteien, die die Scharia noch immer unterstützen, sind größtenteils verschwunden oder haben ihre Plattform gewechselt. Statt den Staat zu übernehmen, wurden die islamistischen Parteien von den Wählern gezwungen, ihre Politik im Sinne eines indonesischen Pluralismus zu ändern.

Die beste Methode, den Muslimen zu helfen, ist vielleicht, einfach aufmerksamer auf die Stimmen des indonesischen Islam zu hören und nicht zu versuchen, Institutionen von Indonesien in den Nahen Osten zu verpflanzen oder "den Amerikanern genehme" Gemäßigte zu unterstützen.

Das ist allerdings nicht so einfach. Keine der Schriften jener Intellektuellen, die von entscheidender Bedeutung für die Demokratisierung und die Frauenrechte in Indonesien waren – wie beispielsweise Abdurrahman Wahid, Nurcholish Madjid, Syafi'i Ma'arif, Siti Musdah Mulia und Maria Ansor Ulfah – wurde jemals ins Englische übersetzt. Noch bedauerlicher ist, dass es sie noch nicht einmal auf Arabisch gibt.

Alfred Stepan und Jeremy Menchik

© Project Syndicate 2010

Alfred Stepan ist Professor für Politikwissenschaft an der Columbia University, Direktor des dortigen Zentrums für Demokratie, Toleranz und Religion, sowie Ko-Autor des gemeinsam mit Juan J. Linz und Yogendra Yadav verfassten Buches Crafting State Nations: India and Other Multinational Democracies. Jeremy Menchik ist Doktorand an der University of Wisconsin-Madison und verbrachte die letzten zwei Jahre in Indonesien, wo er sich dem Studium des Islam und der Politik widmete.

Übersetzung aus dem Englischen: Helga Klinger-Groier

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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