Illusion und Realität

Der jüngste Arabische Bericht über die menschliche Entwicklung beleuchtet die tiefen sozialen Probleme in der arabischen Welt und zeigt auf, einen wie weiten Weg die Araber noch vor sich haben hin zu demokratischen Freiheiten, meint Fred Halliday

Der jüngste Arabische Bericht über die menschliche Entwicklung (AHDR) wirft ein Schlaglicht auf die tiefen sozialen Probleme in der arabischen Welt und stärkt das Bewusstsein unter den Arabern dafür, einen wie weiten Weg sie noch vor sich haben hin zu demokratischen Freiheiten, meint Fred Halliday

Anhänger der Kifaya-Bewegung demonstrieren gegen Mubarak und für politische Reformen in Ägypten; Foto: dpa
Anhänger der Kifaya-Bewegung demonstrieren gegen Mubarak und für politische Reformen in Ägypten

​​Die Frage politischer Reformen in der arabischen Welt hat in den letzten Monaten an Bedeutung gewonnen. Dies aus zwei Gründen: in den Vereinigten Staaten und in Europa wegen der neuen Begeisterung, mit der die Bush-Administration den Wandel im Nahen Osten begleitet, in der arabischen Welt aus einer ganzen Reihe von Gründen und Entwicklungen: von den Wahlen im Irak und in Palästina, über die Proteste gegen die syrische Präsenz im Libanon bis zu den Ankündigungen von Staaten wie Ägypten, ihre Verfassung zu modernisieren.

Niemand vermag zurzeit zu sagen, wohin dieser arabische Frühling führen wird, noch nicht einmal, ob es sich überhaupt um einen Frühling handelt. Es wäre verfrüht anzunehmen, dass die US-amerikanische Politik auf die Entwicklungen tatsächlich Einfluss haben wird; doch einen solchen von vornherein auszuschließen, wäre genauso verfehlt.

Wie die Marxisten immer wider konstatiert haben: Der Imperialismus kann sehr widersprüchliche Auswirkungen haben. Was aber in jedem Fall fehlt — und zwar auf westlicher Seite genauso wie im Nahen Osten selbst — ist eine realistische Analyse der Frage, warum es so vielen arabischen Staaten noch immer an Demokratie mangelt.

Eine solche Analyse müsste auch klären, inwieweit sich die Situation in jedem einzelnen Staat in einen weiteren Kontext einordnen lässt: historisch, in Bezug auf den regionalen Kontext und auf die internationale Situation. All diese Fragen spielen eine wichtige Rolle bei der Klärung des jeweiligen demokratischen Status quo, aber auch für die praktische Politik in diesen Staaten.

Araber im Fokus

Der Ausgangspunkt einer solchen Diskussion kann keinesfalls Washington sein: Der Rhetorik der Bush-Regierung zum Wandel im Nahen Osten fehlt es an analytischem Verstand genauso wie an moralischer Substanz. Sie belegt damit nur ein weiteres Mal die sich ständig abwechselnden Policy-Moden am Ufer des Potomac. Und man sollte auch nicht vergessen, dass es um dieselben Leute geht, die 2000, als sie an die Macht kamen, verkündeten: "Nation-Building ist nicht unsere Sache".

Weder die neo-konservativen Befürworter eines umfassenden Wandels noch ihre liberalen Widersacher, wie der sehr überschätzte Thomas Friedman, verraten auch nur eine Spur von Kenntnis über den historischen Kontext, in dem sich die Politik im Nahen Osten entfaltet.

Aus ihrer Sicht ist die Region "isoliert" von globalen Trends und zeigt sich "resistent" gegenüber Reformen. Dabei müsste jeder, der auch nur einen Funken Sachkenntnis über die Region besitzt, wissen, dass sie ganz im Gegenteil eine ganze Reihe einschneidender politischer Transformationsprozesse erlebt hat.

Dazu gehören die Reformbewegen der Tanzimat-Ära unter den Osmanen (1839-76) genauso wie die iranische Verfassungsrevolution von 1906 oder die sozialistischen und populistischen arabischen Revolutionen in Algerien, Ägypten, Irak oder im Jemen.

Gründe für die Entwicklung der arabischen Staaten

Die gegenwärtige westliche Diskussion über Reformen im Nahen Osten verkennen außerdem zwei wesentliche Aspekte politischer Soziologie: zum einen die Tatsache, dass die momentan in der Region vorherrschende Staatsform ein Produkt nicht irgendwelcher kultureller oder nur innerer Prozesse ist, sondern vielmehr ein Ergebnis von Staatenbildung, im Sinne aufgezwungener Verwaltungsakte, von militärischer Intervention, ideologischen Verwerfungen; Resultat des Kalten Krieges genauso wie der Ölpolitik seit dem Ende des Osmanischen Reichs 1918.

Genauso wie die Person Osama Bin Ladens sind auch die Staaten des Nahen Ostens, einschließlich Israel, ein Produkt jüngster internationaler Geschichte und vor allem des Kalten Krieges.

Wenn man dies feststellt, geht es dabei nicht darum, dem Westen die alleinige Verantwortung aufzubürden, sondern einzig darum, zu erhellen, wie die Länder so geworden sind wie sie sich uns heute präsentieren, wer sie unterstützt, wer sie geprägt hat und warum.

Die zweite Dimension politischer Soziologie, an der es der gegenwärtigen Diskussion mangelt, ist die eigene, westliche Demokratisierungsgeschichte: Auch die Demokratie in diesen Ländern kam doch nicht über Nacht, durch Wahlen oder durch raschen Wandel, sondern dauerte Dekaden, und nur zu oft brauchte es Kriege und Bürgerkriege, um demokratische Freiheiten zu erkämpfen.

Versagen der arabischen Welt

Einen anspruchsvolleren und informierteren Ansatzpunkt bietet dagegen die Arbeit einer Gruppe arabischer Intellektueller, die, gefördert von den Vereinten Nationen, jüngst ihren dritten Arabischen Bericht über die menschliche Entwicklung (AHDR) vorgelegt haben. Vorgestellt wurde er am 25. Mai im Elcano Institute for International and Security Studies in Madrid.

Rima Khalaf Hunaidi, Leiterin des arabischen Teams und frühere jordanische Ministerin in verschiedenen Ressorts, meint, dass die arabische Welt im internationalen Kontext seit 1980 in allen Bereichen versagt habe. Und die Zahlen sprechen tatsächlich eine deutliche Sprache: 32 Millionen Menschen leiden an Unterernährung; trotz der Öleinnahmen stieg das Pro-Kopf-Einkommen langsamer als in anderen Ländern; es gibt nach wie vor 65 Millionen Analphabeten, zwei Drittel davon Frauen.

Regionale Konflikte, vor allem die im Irak und Palästina, schüren extremistische Tendenzen. Nach wie vor gibt es Staaten — im Bericht als "Schwarze Löcher" bezeichnet —, die ihren Staatsbürgern elementare politische Freiheiten und das Ausleben persönlicher Lebenskonzepte versagen. (…)

Der maßvolle Ansatz des AHDR verbindet das Bewusstsein für regionale, kulturelle und politische Präzedenzfälle der arabischen Demokratisierungsgeschichte mit einer vergleichenden Perspektive, die auf dramatische Weise die kläglichen Zahlen in den Bereichen Bildung, Einkommen und Staatsführung unterstreicht. Beide Ansätze, der regionale wie der vergleichende, laden zu einer weiteren Diskussion ein.

Analyse außerhalb des Zahlenmaterials

Das Zitieren islamischer und arabischer nationalistischer Denker und von Reformansätzen der Sharia scheint auf den ersten Blick einer der wichtigsten politischen Moden unserer Zeit, dem "Dialog der Kulturen" geschuldet zu sein. Und zweifellos: Solange ein solcher Dialog der Bildung, dem gegenseitigen Verständnis und dem Frieden dient, sollte er höchst willkommen sein.

Wenn er aber in einem Dokument der UN stattfindet, sollte darauf geachtet werden, dass er nicht dem zuwider läuft, was seit mehr als vier Jahrzehnten die Grundlage für jede Diskussion zu diesem Thema gebildet hat: der 1948 verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Diese und nachfolgende Konventionen verkündeten einen universalistischen Anspruch auf politische, soziale, wirtschaftliche sowie emanzipatorische Rechte, die sich auf weltweit gültige Normen beriefen und gleichzeitig eine weltweite Autorität zu ihrer Durchsetzung postulierten.

Zur gleichen Zeit mag die Analyse der Lage im Nahen Osten auf der Grundlage bloßer Zahlen andere, ebenso wichtige Entwicklungen eher verschleiern als erhellen: Viel wurde gesagt über die geringe Zahl fremdsprachiger Publikationen auf dem arabischen Buchmarkt, um zu belegen, wie nach innen gewandt und kulturell isoliert die Araber sein müssten.

Das tatsächliche Problem aber — und das sage ich aus eigener Erfahrung — liegt weniger in einem Widerstand gegen die Übersetzung als solcher, sondern am Unwillen, Lizenzgebühren zu entrichten. So gibt es sehr viel mehr ausländische Bücher, die ins Arabische übersetzt werden als allgemein bekannt ist.

Ich erinnere mich etwa, wie ich einmal im Fernsehsender Al-Jazeera mit einem berühmten ägyptischen Verleger und Buchhändler namens Matbouli, einem echten Volkshelden, diskutierte und dieser fröhlich ausrief: "Copyright ist Imperialismus!", als ich Lizenzgebühren für die Übersetzung meines Buches verlangte.

Politikerkaste ist das eigentliche Problem

Ein ähnliches Überdenken mag angebracht sein, wenn es um die im AHDR dargelegten Meinungen von Bürgern zu ihren "Politikern" geht. Mag dieser Begriff in Ländern wie denen Lateinamerikas, Europas oder Afrikas durchaus angebracht sein, so bezeichnet er im Nahen Osten zwei verschiedene Kategorien von Leuten.

Auf der einen Seite sind dies Minister und Parlamentarier, bei denen es sich um kaum mehr als bezahlte Marionetten des Staates handelt. Auf der anderen aber haben wir diejenigen, die mit wirklicher politischer und gesellschaftlicher Machtfülle ausgestattet sind, also die Mitglieder der herrschenden Familien, seien es die mit royalem Hintergrund (also in Saudi-Arabien, Kuwait, Qatar oder Marokko) oder die von Präsidentenfamilien (Ägypten, Libyen, Tunesien, Jemen, Syrien).

Diese Familien besitzen die tatsächliche Macht im Land, nicht die Politiker, die ein Amt innehaben und dafür eine kleine Aufwandsentschädigung erhalten. Grob gerechnet kann davon ausgegangen werden, dass sich die Mitglieder der herrschenden Familien und ihnen nahe stehende Personen etwa ein Drittel aller Staatseinkünfte in die eigenen Taschen stecken, was von den amerikanischen Botschaften mit dem euphemistischen Begriff "außerhalb des Etats" ("off-budget") belegt wird.

Hierin, und weniger in der Korruption innerhalb der Politikerkaste selbst, ist die eigentliche Malaise der Staaten des Nahen Ostens zu sehen.

Bericht ist Bestätigung der Lebenswirklichkeit

Und noch eine Wendung in dieser vertrackten Geschichte arabischer "Reformen” und politischer Lähmung gilt es zu berichten: So mag der Arabische Bericht über die menschliche Entwicklung sehr wohl einige Verallgemeinerungen und Klischees korrigieren, die im Westen vorherrschen, und zeigen, dass es durchaus Elemente in der Kultur, der Religion und in der jüngsten Geschichte der Region gibt, die für einen demokratischen Wandel sprechen.

Für die Menschen aber, die in diesen Gesellschaften leben, ist er von ganz anderem Wert, bestätigt er doch nur in wohl dokumentierten und klaren Sätzen, was sie seit langem instinktiv wussten.

Vergleichbar mit einem Arzt, der seinem Patienten in objektiven, wissenschaftlichen Begriffen erklärt, was dieser schon lange über seine eigene Gesundheit dachte, bietet der Bericht in kontinent-übergreifenden Vergleichen und anhand von eindrucksvollen Daten eine solide Untermauerung gelebter Erfahrung und drückt aus, was auch viele Araber selbst fühlen und denken.

In den zeitgenössischen arabischen Romanen finden sich zahlreiche Parallelen zu dem, was im AHDR über Korruption, vergeudete und verlorene Lebenschancen gesagt wird. Nirgendwo wird dies klarer als bei der großen Trilogie über die arabische Halbinsel, Salzstädte, verfasst von dem im vergangenen Jahr verstorbenen Abdalrachman Munif, einem Saudi, der einen Großteil seines Lebens in Damaskus verbrachte. In vielen arabischen Ländern, darunter Ägypten und Sudan, findet politische Kritik ihren Ausdruck auch in Popmusik und in der Dichtung.

Araber auf dem ersten Platz

Der beste Anhaltspunkt, um einen Eindruck von der Haltung der Araber gegenüber ihren Regierenden zu gewinnen, ist in ihrem Humor zu finden, einem überall vorhandenen und doch unterschätzten Merkmal der Araber im gesamten Nahen Osten. Im arabischen Humor bleibt niemand verschont; ganz egal, ob es um einen Regierungschef geht oder einen religiösen Führer, alle sind sie Zielscheiben beißenden Spotts.

In einem arabischen Land wird die Geschichte eines Präsidenten erzählt, der, nachdem er seine Zuhörer mit einer langatmigen öffentlichen Rede fast zu Tode gelangweilt hat, von seinen Beratern verlangte, ihm künftig kürzere Reden zu schreiben.

Als er das nächste Mal etwas vortrug, stand er auf und redete zwei Stunden lang. Anschließend brüllte er seine Berater an: "Hab ich euch nicht gesagt, dass ihr mir eine kürzere Rede schreiben sollt?". Darauf erwiderten diese: "Das ist richtig, Herr Präsident. Aber Sie hätten ja auch nicht alle fünf Kopien der Rede vortragen müssen!"

Sollten die Vereinten Nationen eines Tages eine quantitative Aufstellung über politischen Humor machen, einen "Welt-Humor-Index" sozusagen, würde die arabische Welt plus dem Iran nach meiner Erfahrung garantiert auf dem ersten Platz landen.

Fred Halliday

© Fred Halliday, zuerst veröffentlicht bei openDemocracy

Fred Halliday ist Gastprofessor an der Cidob Barcelona. Der Artikel basiert auf einer Rede, die Halliday am 25. Mai innerhalb eines Panels hielt, das den "Arabischen Bericht über die menschliche Entwicklung" (AHDR) am Elcano Royal Institute for International and Security Studies vorstellte.

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