Muslime als dritte Partei

Trotz Einreiseverbots gelang es einer ausländischen Journalistin, als Touristin in die Tibet-Unruheregion zu reisen. Ihren Beobachtungen zufolge sind die Proteste nicht nur das Resultat aufgestauter Aggressionen von Tibetern gegenüber Han-Chinesen, sondern auch gegenüber Muslimen. Von Nina Ritter

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Tibet Karte; Foto: AP
Obwohl der Tibet-Konflikt seit geraumer Zeit im Fokus internationaler Medien steht, wurde kaum beachtet, dass Muslime eine Partei in diesem Konflikt sind.

​​Wie ein Lauffeuer haben sich in der vergangenen Woche Demonstrationen und Gewalt von der tibetischen Hauptstadt Lhasa auf tibetische Gebiete in den Nachbarprovinzen ausgeweitet. Dort richtet sich die Aggression jedoch nicht nur gegen Han-Chinesen, von denen sich die Tibeter kolonialisiert fühlen.

In dem Konflikt gibt es noch eine dritte Partei, die bisher weitgehend unbeachtet blieb: ortsansässige muslimische Volksgruppen. Zwischen ihnen und den Tibetern schwelt bereits seit Jahrhunderten ein Konflikt, der – von beiden Seiten ausgelöst – in den letzten Jahren immer wieder in Gewalt ausgeartet ist.

Konflikte um Wasser und Land

"Lass uns etwas essen gehen, aber nicht in einem Muslim-Restaurant", sagte eine tibetische Freundin, als ich sie vor ein paar Jahren in Lanzhou, der Hauptstadt der Provinz Gansu, besuchte.

Damals hatten tibetische Studenten an der lokalen Minderheitenuniversität zum Boykott muslimischer Geschäfte und Restaurants aufgerufen. Auslöser war eine Messerstecherei zwischen Tibetern und Muslimen in einem kleinen Ort in Qinghai gewesen, bei der ein Tibeter getötet worden war. Doch bei dem Boykott ging es um mehr: "Wir Tibeter sollten unser eigenes Ding machen. Wir sollten tibetische Geschäfte unterstützen", gab meine Freundin die Losung der Studenten wieder.

Wilde Gerüchte machten damals unter Tibetern die Runde und dienten vielen als Vorwand für den Boykott: Muslimische Köche mischten Tibetern dreckiges Spülwasser ins Essen oder streuten Asche von Verstorbenen hinein, um aus den Tibetern Muslime zu machen, hieß es da zum Beispiel. Dass Muslime ihre Toten nicht verbrennen, sondern beerdigen, blieb dabei unbeachtet.

Die Streitigkeiten zwischen Tibetern und Muslimen haben meist einen wirtschaftlichen Hintergrund. In zahlreichen Gegenden vor allem im Norden von Qinghai und Gansu, am Rand der Seidenstrasse, leben die beiden Gruppen gezwungenermaßen Seite an Seite eng miteinander. Immer wieder kommt es dabei zu Auseinandersetzungen um Wasser und fruchtbares Land, die in dieser kargen Gegend knapp sind.

Ein tibetischer Student in Xining beklagt sich über die Situation in seiner Heimatgegend: "Die Muslime haben sich das gute Land im Tal unter den Nagel gerissen und uns immer weiter in die Berge verdrängt."

Aus einem schmalen Rinnsal schöpfen die Bewohner in seinem Dorf das Wasser. Der Ort liegt in Xunhua, einer Gegend in Qinghai, die von der Regierung als autonomer Bezirk der muslimischen Volksgruppe der Salar ausgewiesen ist. Ein anderer Tibeter von dort moniert: "Die Muslime dominieren die Wirtschaft und die Verwaltung. Sie schachern sich gegenseitig alles zu. Für uns Tibeter bleibt da nichts übrig."

Andere Tibeter behaupten, Muslime hätten den ganzen Handel in der Hand und betrögen häufig: "Als mein Bruder einmal einige Schafe verkaufen wollte", erzählt ein junger Tibeter aus einer Nomadenfamilie, "nahmen ein paar Hui-Muslime die Tiere mit und sagten unter einem Vorwand, die Hälfte der abgemachten Summe würden sie erst später zahlen. Natürlich hat mein Bruder sein Geld nie gesehen."

Tibetische Mönche bei einem Protest gegen die chinesische Regierung; Foto: AP
Gemäß Beobachtungen einer Ausländischen Journalistin sind die Proteste nicht nur das Resultat großer aufgestauter Aggressionen von Tibetern gegenüber Han-Chinesen, sondern auch gegenüber Muslimen.

​​"Manche mögen es ausnutzen, wenn Tibeter unerfahren in Handelsangelegenheiten sind", wehrt sich ein Professor der muslimischen Salar aus Xining. "Aber das sind Ausnahmen."

Sehr unterschiedliche Lebensweisen

Dass die Muslime in der Region bis heute den Handel dominieren, haben sich die Tibeter nicht zuletzt selbst zuzuschreiben. Traditionell lebten sie fast ausschliesslich als Nomaden oder Bauern – und tun dies bis heute. Ortsansässige Muslime besetzten in früheren Jahrhunderten jene Berufe, die von den Tibetern als niedrig oder unrein angesehen waren. Dazu zählten Tiereschlachten, Handwerk und eben auch der Handel.

Über die Jahrhunderte konnten sie sich daher als Geschäftsleute etablieren; als nach dem Ende der Kollektivierungsphase in China im Zuge der Öffnungspolitik private Geschäfte wieder ermöglicht wurden, profitierten sie von ihren weit reichenden Netzwerken und waren den Tibetern geschäftlich haushoch überlegen.

Mit Boykotten, die im Jahr 2003 begannen, versuchten die Tibeter die muslimischen Geschäftsleute aus ihren Siedlungsgebieten zu verdrängen, was ihnen in einigen Fällen sogar gelang. Auf den Fensterscheiben einiger Restaurants in Mangra (Guinan) in der Provinz Qinghai, die zuvor Muslimen gehört hatten, war nach Beginn des Boykotts auf Tibetisch zu lesen: "Tibetische Nudelsuppe, tibetisches Fladenbrot" – dabei handelte es sich jedoch meist um die gleichen Gerichte, die zuvor die muslimischen Besitzer angeboten hatten.

Ein junger Tibeter in Jeans und Turnschuhen stellte damals hinter vorgehaltener Hand fest, eigentlich habe es bei den Muslimen besser geschmeckt. Doch dann fügte er schnell hinzu: "Trotzdem sollten wir Tibeter in unseren eigenen Restaurants essen." Fragt man wiederum Muslime aus der Region nach ihrer Meinung über die Tibeter, halten diese viele für dumm und ungehobelt.

Besonders in Nomadengegenden, wo gelangweilte junge Männer gern einmal vom Grasland in die Bezirksstädtchen kommen, um sich zu betrinken, und dann nicht selten eine Schlägerei anzetteln, haben die Tibeter ein schlechtes Image.
Ein muslimischer Taxifahrer aus Gansu kommentiert die derzeitigen Unruhen: "Die Tibeter sind ausgeflippt."

Der etwa 40-Jährige mit dem freundlichen runden Gesicht und dem weißen Käppi, Erkennungszeichen der chinesischen Muslime, macht grinsend ein paar abfällige Bemerkungen über Tibeter. Doch dann hält er kurz inne und fügt mit ernster Miene hinzu: "In Xiahe haben sie die Moschee in Brand gesetzt und in Lhasa auch, das geht doch wirklich zu weit."

Verordnete Harmonie

Die chinesischen Behörden tun wenig, um solche ethnischen Konflikte zu lösen. Nach offizieller Lesart herrscht ein harmonisches Verhältnis zwischen den ethnischen Gruppen im Vielvölkerstaat China – so zumindest lautet das von der Zentralregierung in Peking propagierte Ideal.

Ethnisch bedingte Auseinandersetzungen werden gerne unter den Teppich gekehrt. Und auf lokaler Ebene kümmern sich die, die Macht und Geld haben, meist lediglich darum, ihre eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen; ob es sich dabei um Muslime, Han-Chinesen oder auch Tibeter handelt, spielt keine große Rolle.

In der Vergangenheit hatten die lokalen Ordnungshüter bei sporadisch aufflackernden lokalen Scharmützeln die Sache meist schnell im Griff – zumindest vorübergehend. Aber jetzt, wo in vielen Teilen des tibetischen Siedlungsraums Gewalt aufgeflammt ist, von der alle drei großen Volksgruppen der Region betroffen sind, und wo nun ganze Landstriche vom Militär kontrolliert werden, ist die Lage kompliziert geworden.

Sollte sich die Situation allerdings wieder beruhigen, wäre die chinesische Regierung gut beraten, ihr Idealbild von der verordneten Harmonie der Volksgruppen, bei der Konflikte gerne einfach unter den Teppich gekehrt werden, zu überprüfen.

© Neue Zürcher Zeitung 2008

* Name von der Redaktion aus Sicherheitsgründen geändert.

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